Warum stehen manche Bandscheibendegenerationen mit Schmerzen in Zusammenhang, andere dagegen nicht?

Über die Bedeutung von Bandscheibendegenerationen im Kontext von Rückenschmerzen lässt sich trefflich streiten. Einerseits zeigen großen epidemiologische Studien einen altersassoziierten Zusammenhang und eine sehr hohe Prävalenz solcher Veränderungen bei beschwerdefreien Menschen (1-4)

Andererseits weisen viele Daten darauf hin, dass Bandscheibendegenerationen bei Menschen mit Rückenschmerzen häufiger vorkommen als bei Beschwerdefreien (5)

und derartige Veränderungen den Verlauf von Rückenschmerzen beeinflussen können (6). Warum, so fragt man sich, sind manche degenerierte Bandscheiben also schmerzhaft und andere nicht?

Traditionell werden in der Forschung in erster Linie 3 Mechanismen diskutiert! (7)

1. Einwanderung von Blutgefäßen und Nerven

Strukturelle Schäden an der Endplatte oder dem äußeren Anulus  bieten Blutgefäßen und Nerven die Möglichkeit, in die Bandscheibe einzudringen. Die Fasern des Anulus weisen eine geringe kompressive Spannung auf (8), so dass Blutgefäße in sie einwachsen können, ohne zu kollabieren. Darüber hinaus ermöglichen die Fissuren eine fokale Schwellung, was zu einem Verlust von Proteoglykanen führt, die normalerweise das Einwandern von Blutgefäßen (9) und Nerven (10) hemmen.

Einwachsende Kapillaren und chondrozyten-ähnliche Bandscheibenzellen können neurotrophe Faktoren absondern, die wiederum das Einwachsen von Nerven fördern (11), insbesondere in stärker degenerierten Bandscheiben (12). Auf diese Weise sind strukturelle Defekte in einem degenerierten Anulus ein mechanischer und chemischer “Nährboden” für eine Revaskularisierung und Reinnervation.  (13-15)

Diese Faktoren werden mit diskogenen Schmerzen in Verbindung gebracht (16-20)

2. Sensibilisierung der Nerven: Inflammation und Infektion

Die Schwere und Dauer vieler diskogener Rückenschmerzen und Ischiasbeschwerden lässt vermuten, dass eingewachsene Nerven und irritierte Nervenwurzeln überempfindlich auf mechanische Reize reagieren können, wahrscheinlich durch entzündliche Mechanismen. (21,22)

Eine Sensibilisierung kann auch auf das Vorhandensein von anaeroben Bakterien zurückgeführt werden, die den Nucleus einiger Patienten mit Bandscheibenvorfälle infizieren können. (23)

3. Provokation von sensibilisierten Nerven

Ein dritter wahrscheinlicher Faktor bei bandscheibenbedingten Schmerzen ist die Erzeugung von Belastungskonzentrationen im beschädigten und degenerierten Bandscheibengewebe (24). Selbst wenn die Gesamtbelastung einer degenerierten Bandscheibe normal ist, können Spannungskonzentrationen dennoch hohe lokale Beanspruchungen (Verformungen) erzeugen, die sensibilisierte Nerven stören (“ärgern) können.

Einschränkend sollte man sicher aber vor Augen führen, dass unspezifische Rückenschmerzen komplexe Erfahrungen sind, die von verschiedensten biopsychosozialen Faktoren getriggert bzw. unterhalten werden können. Nozizeptive oder neuropathische Treiber, wie sie hier genannt werden, bilden daher nur einen Teil der Wahrheit ab. (25-27)

Degenerierte lumbale Bandscheiben beim Menschen, geschnitten in der mittleren Sagittalebene.

A: Bei der “endplattenbedingten Degeneration” ist eine knöcherne Endplatte frakturiert, und der Anulus ist von innen geschädigt (Pfeil).

B: Bei der “anulusbedingten Degeneration” ist der Anulus direkt betroffen: In diesem Fall ermöglicht ein vollständiger radialer Riss (Pfeil) die Bewegung des Nukleusgewebes nach außen und die Bewegung des Blutes nach innen.

C: Herniation des Nucleus pulposus durch einen radialen Riss als Reaktion auf eine starke mechanische Belastung.

Neurale Elemente einer gesunden bzw. pathologisch veränderten Bandscheibe

Vaskuläre Versorgung einer gesunden (li.) und einer degenerierten bzw. lokalgeschädigten (re.) Bandscheibe

Literaturangaben

Primärquelle: Groh et al. (2021) Innervation of the human intervertebral disc: a scoping review.

Fournier et al. (2020) Vascularization of the human intervertebral disc: A scoping review.

  1. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25430861/
  2. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23982421/
  3. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/20006557/
  4. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28506227/
  5. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26359154/
  6. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34269758/
  7. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24753325/
  8. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22706090/
  9. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/15897827/
  10. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/12384924/
  11. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/12115873/
  12. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/18727839/
  13. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1063458420311407?fbclid=IwAR2I_lwalr8zDki0NLeeeuvnw6q84-ZQv-0DBRK0rpvFm_SndMecEgqMYwM
  14. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33392458/
  15. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33595648
  16. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/15564915/
  17. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/16508552/
  18. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1063458420311407?fbclid=IwAR2I_lwalr8zDki0NLeeeuvnw6q84-ZQv-0DBRK0rpvFm_SndMecEgqMYwM
  19. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33392458/
  20. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33595648/
  21. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/11924650/
  22. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/20222111/
  23. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23397187/
  24. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/10870137/
  25. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34748265/
  26. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31610090/
  27. https://www.iasp-pain.org/publications/iasp-news/iasp-announces-revised-definition-of-pain/?ItemNumber=10475&navItemNumber=643