Warum macht Dehnen beweglicher? Die Mechanismen im Überblick!

Grundsätzliches:

  • Muskuläre Dehntechniken werden mit unterschiedlichen Zielsetzungen angeleitet. Neben der Prävention von Muskelverletzungen und der Beeinflussung der Endothelfunktion von Gefäßen, steht dabei am häufigsten die Steigerung der Beweglichkeit im Vordergrund! (1-3)
  • Unbestritten ist, dass durch eine Dehnung über mindestens 4 Wochen die Beweglichkeit gesteigert werden kann (4,5). Dabei führen alle Dehntechniken zu einer ROM-Zunahme, wenngleich das statische Dehnen einen kleinen signifikanten Vorteil gegenüber dem ballistischen- bzw. PNF-Dehnen haben könnte. (31)

Effekte unterschiedlicher Dehntechniken nach Thomas et al. (31)

DehntechnikStudienanzahlMittelwert (ROM-Zunahme +/-SD)95% Konfidenz-Intervall
Aktiv1318.16 ± 4.8213.34 – 22.98
Ballistisch411.68 ± 1.2010.47 – 12.88
Passiv20 17.4 ± 4.8712.53 – 22.27
PNF1015.27 ± 5.819.46- 21.08
Statisch4119.47 ± 5.7913.68 – 25.26

So klar diese Ergebnisse erscheinen, so unklar sind die zu Grunde liegenden Mechanismen der Beweglichkeitssteigerung.

Sie sollen daher in dieser kurzen Übersicht thematisiert werden!

Was sind also die möglichen Mechanismen?

1. Strukturell – Muskellänge

Wenn in Dehnstudien der Parameter „Muskellänge“ evaluiert wird, dann wird paradoxerweise in fast allen Fällen NICHT die Muskel- sondern die Faszikellänge gemessen/ausgewertet! (8)

Die Faszikellänge kann sich durch die sogenannte Sarkomergenese (weitere Sarkomere werden in Serie angebaut) innerhalb weniger Tage in einem relevanten Ausmaß verändern.

Das Längenwachstum einzelner Sarkomere, sowie das Verhalten bei einer Verlängerung der Muskelsehnen-Einheit kann im Ultraschall sichtbar gemacht werden und ist im höchsten Maße variabel. Eine einfache Gleichung „längerer Faszikel = längerer Muskel“ ist daher NICHT statthaft. (10)

Abb. Aus: Franchi MV, Reeves ND, Narici MV. Skeletal muscle remodeling in response to eccentric vs. concentric loading: morphological, molecular, and metabolic adaptions. Frontiers in Physiology. 2017; doi: 10.3389/fphys.2017.00447. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Zwischenfazit zu 1.

Eine Faszikelverlängerung durch Dehnen ist nur in seltenen Fällen messbar! (11,12)

Eventuell sind für Faszikelverlängerungen sehr intensive (im maximalen Widerstand/Schmerz) und auch lange Dehndauer-, Perioden (mehrere Minuten/ über mehrere Monate ausgeführt) notwendig. (11,12)

Eine Faszikelverlängerung ist für eine größere Mobilität nicht notwendig! (8,13)

“Sarcomergenesis is not a key factor!“ (6)

2. Strukturell – passiver Tonus

Der passive Muskel-Tonus wird durch die molekulare Struktur aller Bestandteile des Muskelgewebes definiert (14-16):

  • Titin (verbindet die Z-Scheibe mit dem Myosinmolekül)
  • Myosinkopf und Querbrückenbildung
  • muskuläres Bindegewebe (Endo-, Peri-, Epimysium)
  • tiefe und oberflächliche Faszien
  • Sehne
  • Flüssigkeitsgehalt

Der passive Tonus wird in Dehnstudien üblicherweise durch den Widerstand (in Nm) gegen die Verlängerung der Muskelsehnen-Einheit gemessen. Bei solchen Messmethoden gilt zu beachten, dass neurale und arthrogene Strukturen beitragende Faktoren sein können. (17,18)

Auch aus diesem Grund wird in neueren Arbeiten versucht, den Beitrag einzelner Gewebe im Ultraschall mittels Elastographie zu quantifizieren. (17,18)

Quellen passiver Tonus

Abb. Aus: Sleboda DA; Stover KK, Roberts TJ. Diversity of extracellular matrix morphology in vertebrate skeletal muscle. Journal of Morphology. 2020; 281: 160.. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Zwischenfazit zu 2.

Ein geringerer passiver Tonus ist häufig kurzfristig und evtl. nach längeren Dehnperioden messbar! (11,19,20)

Eine reduzierter passiver Tonus weist keinen linearen Zusammenhang zu einer größeren Beweglichkeit auf. (Interventionen, welche die größte Tonusreduktion erreichen, gehen NICHT mit der größten Beweglichkeitssteigerung einher!) (12, 21-23)

Evtl. ist das System zu komplex (einzelne Strukturen reduzieren ihren Tonus, andere erhöhen ihren Spannungszustand). (17,18)

3. Funktionell – aktiver Tonus

Die elektromyographische Aktivität im Sinne einer Gegenspannung ist selbst bei massiven Dehnstellungen minimal (siehe Tabelle).

Längere Dehnperioden oder auch neurophysiologische Dehntechniken (postisometrische Relaxation, Antagonistenhemmung) führen nicht zu einer Reduktion des aktiven Tonus! (12, 17, 22, 24-26)

Muskuläre Gegenspannung

Autor% MVC
Andrade 2020<1%
Freitas 2015<1%
Freitas 2016<3%
Blazevich 20147,9-14,7%
Hayes 20121,5-2%

Zwischenfazit zu 3.

Der aktive Tonus und die Flexibilität zeigen keinen Zusammenhang!

4. Sensorisch – Toleranzgrenze

Eine einseitige Hüftextensoren-Dehnung vergrößert die Flexibilität auf der kontralateralen Seite (5,6-8,4%)! (28)

Wadendehnungen steigern die Mobilität der HWS im gleichen Maße wie eine HWS-Dehnung! (30)

Eine Dehnung der OEXT vergrößert die Flexibilität an der UEXT  um 5,2-9%! (29)

Eine einseitige Hamstring-Dehnung vergrößert die Flexibilität auf der kontralateralen Seite um 13,6%! (27)

Was nehmen wir also mit?

„…Daher ist die logische Schlussfolgerung,  auch wenn es einzelne muskulo-tendinöse Faktoren für das ROM gibt, ist der Hauptfaktor die Dehntoleranz!“ (24)

„…Die Ergebnisse dieser Meta-Analyse unterstützen sensorische Mechanismen als ursächlichen Faktor für eine Steigerung der Flexibilität!“(8)

…Fazit

  1. Die Faszikellänge und der aktive Tonus spielen für die Steigerung der Beweglichkeit eine untergeordnete Rolle.
  2. Der passive Tonus, bzw. die passiven Strukturen (z.B. Faszien, Nerven) sind bis dato noch schlecht untersucht, könnten aber einen Beitrag zur Beweglichkeitssteigerung leisten.
  3. Die ermittelten Untersuchungsdaten sind für die sensorische Toleranzgrenze am konsistentesten.

Literaturangaben

  1. Behm DG, Blazevich AJ, Kay AD et al. Acute effects of muscle stretching on physical performance, range of motion and injury incidence in healthy active individuals: a systematic review. Applied Physiology, Nutrition and Metabolism. 2016; 41: 1.
  2. Kato M, Green FN, Hotta K et al. The efficacy of stretching exercises on arterial stiffness in middle-aged and older adults: a meta-analysis of randomized and non-randomized controlled trials. International Journal of Environmental Research and Public Health. 2020; 17: 5643.
  3. Thomas E, Bellafiore M, Gentile A et al. Cardiovascular responses to muscle stretching: a systematic review and meta-analysis. International Journal of Sports Medicine. 2021; doi: 10.1055/a-1312-7131. Online ahead of print.
  4. Thomas E, Bianco A, Paoli A et al. The relationship between stretching typology and stretching duration: the effects on range of motion. International Journal of Sports Medicine. 2018; 39: 243.
  5. Afonso J, Ramizer-Campillo R, Moscao J et al. Strength training is as effective as stretching for improving range of motion: a systematic review and meta-analysis. 2021 MetaArXiv, 14 Jan. 2021. Web.
  6. Blazevich AJ. Adaptions in the passive mechanical properties of skeletal muscle to altered patterns of use. Journal of Applied Physiology. 2019; 126: 1483.
  7. Medeiros DM, Lima CS. Influence of chronic stretching on muscle performance: systematic review. Human Movement Science. 2017; 54: 220.
  8. Freitas SR, Mendes B, Le Sant G et al. Can chronic stretching the muscle-tendon mechanical properties? A review. Scandinavian Journal of Medicine and Science. 2018; 28: 794.
  9. Franchi MV, Reeves ND, Narici MV. Skeletal muscle remodeling in response to eccentric vs. concentric loading: morphological, molecular, and metabolic adaptions. Frontiers in Physiology. 2017; doi: 10.3389/fphys.2017.00447.
  10. Moo EK, Fortuna R, Sibole SC et al. in vivo sarcomere lengths and sarcomere elongations are no uniform across an intact muscle. Frontiers in Physiology. 2016; doi: 10.3389/fphys.2016.00187.
  11. Longo S, Ce E, Bisconti AV et al. The effects of 12 weeks of static stretch training on the functional, mechanical, and architectural characteristics of the triceps surae muscle-tendon complex. European Journal of Applied Physiology. 2021; doi.org/10.1007/s00421-021-04654-z.
  12. Freitas SR, Mil-Homens P. Effect of 8-week high-intensity stretching training on biceps femoris architecture. Journal of Strength and Conditioning Research. 2015; 29: 1737.
  13. Yahata K, Konrad A, Sato et al. Effects of a high-volume static stretching programme on plantar-flexor muscle strength and architecture. European Journal of Applied Physiology. 2021; doi.org/10-1007/s00421-021-04608-5.
  14. Zhang W, Liu Y, Zhang H et al. Extracellular matrix: an important regulator of cell functions and skeletal muscle development. Cell&Bioscience. 2021; 11: 65.
  15. Sleboda DA; Stover KK, Roberts TJ. Diversity of extracellular matrix morphology in vertebrate skeletal muscle. Journal of Morphology. 2020; 281: 160.
  16. Stecco C, Pirri C, Fede C et al. Fascial or muscle stretching? A narrative review. Applied Science. 2021; 11: 307.
  17. Andrade RJ, Freitas SR, Hug F et al. Chronic effects of muscle and nerve-directed stretching on tissue mechanics. Journal of Applied Physiology. 2020; 129: 1011.
  18. Nordez A, Gross R, Andrade R et al. Non-muscular structures can limit the maximal joint range of motion during stretching. Sports Medicine. 2017; DOI: 10.1007/s40279-017-0703-5.
  19. Umehara J, Nakamura M, Saeki J et al. Acute and prolonged effects of stretching on shear modulus of the pectoralis minor muscle. Journal of Sport Science and Medicine. 2021; 20: 17.
  20.  Fukaya T, Matsuo S, Iwata M et al. Acute and chronic effects of static stretching at 100% versus 120% intensity on flexibility. European Journal of Applied Physiology. 2021; 121: 513.
  21. Nakamura M, Sato S, Murakami Y et al. The comparison of different stretching intensities on the range of motion and muscle stiffness of the quadriceps muscles. Frontiers in Physiology. 2021; doi: 10.3389/fphys.2020.628870.
  22. Freitas SR, Vaz JR, Bruno PM et al. Stretching effects: high-intensity&moderate-duration vs. low-intensity&long-duration. International Journal of Sports Medicine. 2016; 37: 239.
  23.  Hatano G, Suzuki S, Matsuo et al. Hamstring stiffness returns more rapidly after static stretching than range of motion, stretch tolerance, and isometric peak torque. Journal of Sport Rehabilitation. 2019; 28: 325.
  24. Blazevich AJ, Cannavan D, Waugh CM et al. Range of motion, neuromechanical, and architectural adaptions to plantar flexor stretch training in humans. Journal of Applied Physiology. 2014; 117: 452.
  25. Youdas JW, Haeflinger KM, Kreun MK et al. The efficacy of two modified proprioceptive neuromuscular  facilitation stretching techniques in subjects with reduced hamstring muscle length. Physiotherapy Theory and Practice. 2010; 26: 240.
  26. Hayes BT, Harter RA, Widrick JJ et al. Lack of neuromuscular origins of adaption after a long-term stretching program. Journal of Sport Rehabilitation. 2021; 21: 99.
  27. Killen BS, Zelizney KL, Ye X. Crossover effects of unilateral static stretching and foam rolling on contralateral hamstring flexibility and strength. Journal of Sport Rehabilitation. 2019; 28: 533.
  28. Chaouachi A, Padulo J, Kasmi S et al. Unilateral and dynamic hamstrings stretching increases contralateral hip flexion range of motion. Clinical Physiology Functional Imaging. 2017; 37: 23.
  29. Behm DG, Cavanaugh T, Quigley P et al. Acute bouts of upper and lower body static and dynamic stretching increase non-local joint range of motion. European Journal of Applied Physiology. 2016; 116: 241.
  30. Wilke J, Vogt L, Niederer D, Banzer W. Is remote stretching based on myofascial chains as effective as local exercise? A randomised-controlled trial. Journal of Sports Sciences. 2017; 35: 2021.
  31. Thomas E, Bianco A, Paoli A, Palma A. The Relation Between Stretching Typology and Stretching Duration: The Effects on Range of Motion. Int J Sports Med. 2018 Apr;39(4):243-254. doi: 10.1055/s-0044-101146. Epub 2018 Mar 5. PMID: 29506306.