Umlernen des Deltoideus als Kompensationsstrategie bei Patienten mit massiven Rotatorenmanschettenrupturen
Hintergründe
Den idealen Patienten und die ideale Verletzung für eine nichtoperative oder operative Behandlung von massiven Rotatorenmanschettenrupturen zu definieren, ist schwierig, solange es keinen klaren Konsens über die Definition eines massiven Rotatorenmanschettenrisses oder eines irreparablen Risses gibt (1-6). Die am häufigsten akzeptierten Definitionen eines massiven Risses sind eine anteroposteriore Rissgröße > 5cm, koronale Retraktion zum Glenoidrand oder ? 2 Sehnenbeteiligung (1-3, 5). Die Definition eines irreparablen Rotatorenmanschettenrisses ist schwierig festzulegen, da die Reparaturfähigkeit weitgehend von der Rissgröße und der Chronizität determiniert ist und zudem von Erfahrung und Können des Operateurs abhängt, also immer auch chirurgenspezifisch ist.
Massiven Rotatorenmanschettenrisse stellen eine komplexe und schwierige Herausforderung dar. Der Erfolg der operativen Reparatur der Rotatorenmanschette ist variabel, die Versagensraten liegen zwischen 25% und 90% (7-20), weshalb ein nichtchirurgischer Ansatz für dmassive Risse der Rotatorenmanschette in Betracht gezogen werden sollte.
Das Deltoideus-Umlernen funktioniert, indem es die Funktion der Deltoid- und der verbleibenden Rotatorenmanschettenmuskulatur optimiert. In der unverletzten Schulter arbeiten die Muskeln des Deltoideus und der Rotatorenmanschette synergistisch zusammen, um ein Gleichgewicht zwischen transversalen und frontalen Kraftpaaren zu generieren, das das Schultergelenk stabilisiert (6). Der Subskapularis vorne und der Infraspinatus und Teres-Minor hinten gleichen sich transversal aus, während der Deltamuskel superior und die Rotatorenmanschette inferior des Oberarmkopfes ein ausgegleichendes frontales Kraftpaar aufrechterhalten. In dieser Eigenschaft fungieren die Rotatorenmanschettenmuskeln als primäre dynamische Stabilisatoren, um eine konzentrische Aktion während der Rotation des Oberarmkopfes auf dem Glenoid (6, 21-25) aufrechtzuerhalten. Massive Manschettenrisse können dieses Kraftpaar stören und letztendlich den Drehpunkt verändern, der für die normale Glenohumeralmechanik notwendig ist. Eine Schulter mit massivem Rotatorenmanschettenriss, die trotzdem ihre Fähigkeit beibehält, den Arm aktiv über die Horizontale zu heben, ist daher eine “kompensierte” Schulter, die ein gutes anteriores und posteriores Kraftpaar beibehält, das es dem Deltamuskel ermöglicht, den Arm über die Horizontale (23) anzuheben. Eine Schulter, die ihre transversalen und koronalen Kraftpaare verliert, kann dagegen instabil werden, was zu einer superioren Migration des Oberarmkopfes auf dem Glenoid führt (23). Diese pathologische Translation kann zu einem Verlust der Fähigkeit führen, den Arm aktiv über die Horizontale zu heben, einer sog. Pseudoparalyse (6, 21-25).
Der vordere Deltamuskel und die verbliebenen Anteile der RM können “umgeschult” werden, um den Oberarmkopf dynamisch gegen das Glenoid zu drücken und die Migration des Oberarmkopfes zu begrenzen (9). Durch eine umfassende Rehabilitation kann den Deltamuskel „beigebracht“ werden, eine mangelhafte Rotatorenmanschettenfunktion zu kompensieren und in einigen Fällen sogar eine Pseudoparalyse rückgängig zu machen (28, vgl. Fallbeispiel nächste Seite). Weiterhin zeigte Olivier Gagey, dass der Deltamuskel die superiore Verschiebung des Oberarmkopfes verhindern kann und ihn gegen das Glenoid (29) drückt.
Indikation/Kontraindikationen: Manche Autoren schlagen eine Erstlinienbehandlung mit diesem Programm bei allen massiven RM-Risse vor; andere sehen eher ältere Patienten, die sich nicht operieren lassen wollen/können und Patienten mit geringen Schmerzen bzw. akzeptabler Funktion als geeignet an. Als Kontraindikationen werden Patienten mit anterior-superiorer Instabilität in Verbindung mit glenohumeraler Arthrose und jüngere Patienten mit hohem Funktionsbedarf, ins. für AR genannt.
Als Voraussetzung wird ein volles passives ROM genannt, dass bei Einschränkung durch passiv-assistive Übungsformen (Stock, Galgen) hergestellt werden sollte. (vgl. Anhang A)
A und B zeigen ein Fallbeispiel: Die Patientin präsentiert den Bewegungsumfang der rechten Schulter. C zeigt die Röntgenaufnahme der Patientin mit einer schweren superioren Migration des Oberarmkopfes, einem vollständig aufgebrauchten acromiohumeralen Abstand und einer Erosion der Unterseite des Acromions. D und E zeigen den Bewegungsumfang der Patientin 6 Wochen nach dem Deltoideus-Rehaprogramm.
Deltoideus-Umschulung in der Praxis
3-5x Tag für 12 Wochen, bis zur muskulären Ermüdung oder für 5 min.
A: Der Patient wird zuerst angewiesen, seinen Arm in die aufrechte Position zu bringen und zu versuchen, ihn mit seiner Deltoideus-Aktivität dort zu halten.
B: Flach auf dem Rücken liegend wird die Armbewegung zunächst in kleiner Amplitude aus der aufrechten Position innerhalb eines komfortablen Bogens durchgeführt.
A+B: Der Bewegungsbogen wird demonstriert, wobei die Handflächen des Therapeuten die Grenzen des Bogens anzeigen.
A: Der Bogen wird mit einem geringen Gewicht, wie z.B. einer Dose Bohnen wiederholt, und die Amplitude wird allmählich erhöht, wenn das Vertrauen des Patienten zunimmt. B: Der Patient fährt fort, indem der Arm gegen die Schwerkraft in einer halbsitzenden Position bewegt wird. Eine weitere Progression wäre der aufrechte Sitz bzw. der Stand.
Eine weitere nützliche Übung ermöglicht die Rehabilitation der konzentrischen Kraft des Deltas. Der Patient wird angewiesen, mit der Hand der betroffenen Seite eine Faust zu machen. Die flache Hand der gegenüberliegenden Seite sorgt für Widerstand. Die betroffene Seite wird dann gegen den Widerstand der anderen Hand gedrückt. Dabei werden die Patienten feststellen, dass sie den Arm oft vollständig über ihren Kopf heben können.
Ergebnisse:
Levy et al. (2008) berichten von einer
- Verbesserung des Constant-Scores von 26 (Range: 8-41) auf 63 Punkte (Range: 43-77).
- Die Flexion verbesserte sich von 40° (Range: 30°-60°) am Anfang auf ein Mittel von 160° (Range: 150°-180°) nach dem Programm (12 Wochen) bei 17 Patienten mit radiologisch bestätigter massiver chronischer RM-Ruptur. Bei 82% (14 von 17) konnte die Pseudoparalyse revidiert werden. (vgl. Patientin aus Fallbeispiel)
Literaturangaben
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