Muskeldehnung als neues Trainingsparadigma der kardiovaskulären Medizin

HINTERGRUND

Während einer akuten Muskeldehnung kommt es physiologisch zu 2 kontrastierenden Mechanismen im Gefäßsystem des gedehnten Muskels.

  1. Zu einer Vasokonstriktion mit reduziertem Blutfluss in der den Muskel versorgenden Arterien1, die durch einen systemischen Anstieg des sympathischen Nerventonus2 aufgrund von dehnungsinduziertem Stress auf Muskelmechano- und Metabo-rezeptoren entsteht.3
  2. Zu einer Vasodilatation mit nachfolgender Zunahme des Blutflusses in den versorgenden Arterien des gedehnten Muskels. Diese könnte durch die Freisetzung endogener vasoaktiver Substanzen als Folge der dehnungs-induzierten Belastung der Gefäßwand entstehen, so dass die sympathische Vasokonstriktion übertroffen wird.1,3,14,15,16

Die Phase zwischen 2 Dehnreizen ist darüberhinaus immer von einer Hyperämie infolge einer Reduktion des peripheren Gefäßwiderstands bestimmt, die nach einer dehnungsinduzierten Deformierung des Gefäßes auftritt. 1,5

Viel weniger ist dagegen über die chronischen Effekte von Muskelstretching auf das Gefäßsystem bekannt.5,6   Einige Studienergebnisse deuteten schon in der Vergangenheit auf eine Verbesserung der Gefäßfunktion und der arteriellen Steifigkeit durch ein längerfristiges Dehnungsprogramm hin.6,7,8,9

Hinter diesem Phänomen könnte die Wirkung dehnungsinduzierter Scherkräfte auf das innere Gefäßlumen bzw. eine dehnungsinduzierte Ischämie/Hypoxie stehen, die eine Reaktionskette triggern kann, an deren Ende eine höhere Stickstoffmonoxid (NO)-Syntheseaktivität steht.5,6,10,18-23 NO wiederum ist eine Substanz, die Arterien dilatiert.

Stretching könnte durch kontinuierliche, sich wiederholende Scherkräfte auf die Gefäßwand als eine Art “vaskuläres Training” wirken, das zu einem endothelialen Remodeling (d.h. Veränderungen der vaskulären Steifigkeit und Struktur) führt und somit die vaskuläre Funktion verbessert, ähnlich wie auch ein Training der Skelettmuskulatur.11,12,13

Erleben wir also eine Renaissance der Muskeldehnung als neues Trainingsparadigma der kardiovaskulären Medizin???

Die Ergebnisse eines aktuellen RCTs5 scheinen in diese Kerbe zu schlagen. 

Jede der unten dargestellten passiven Dehnungen wurde 5 mal für 45 sec. (Pause 15 sec.), 5 Tage/Woche über 12 Wochen unilateral bzw. bilateral von gesunden Probanden durchgeführt.

In der Stretching-Gruppe kam es zu signifikanten Verbesserungen der flussvermittelten Dilatation sowie der zentralen und peripheren Pulswellengeschwindigkeit als Marker einer arteriellen Steifigkeit. Und das sowohl in gedehnten als auch (schwächer) in ungedehnten Bereichen.

Die genauen Ergebnisse5….

Flussvermittelte Dilatation (FMD = prozentuale Veränderung des Gefäßdurchmessers (Vasodilatation) durch strömungsbedingte Scherkräfte. Ihre Bestimmung ermöglicht Rückschlüsse auf die Endothelfunktion):

+30%, + 25% , +8% für Zunahme des Blutflusses in A. femoralis und FMD für A. poplitea (gedehnt) bzw. A. brachialis (nicht gedehnt) im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne Dehnung.

Pulswellengeschwindigkeit (PWV = Geschwindigkeit, mit der die Druckwelle die Arterien eines Organismus durchläuft.  Eine höhere PWV spricht für eine höhere Gefäßsteifigkeit, wie sie bei einer Arteriosklerose zu beobachten ist):

-25%, -17%, -4% und -5% für PWV der zentralen und peripheren Gefäße bzw. systolischem und diastolischem Blutdruck im Vergleich zu einer Gruppe ohne Dehnung.

Die Effekte waren teilweise nach 6 Wochen ohne Dehnung rückläufig.

Auch ein brandaktueller Review mit Metaanalyse25 bestätigt die Wirkung von Muskeldehnung auf die Gefäßgesundheit.

In 8 randomisierten7,8,9,26,27,28  bzw.  nicht-randomisierten24,29 Studien mit insg. 213 gesunden und klinischen Teilnehmern verbesserte Dehnung signifikant und stark die vaskuläre Endothelfunktion (SMD: 1,00, 95% KI: -1,57 bis -0,44, p = 0,0004) und die Gefäßsteifheit (SMD: 1,15, 95% KI: 0,26 bis 2,03, p = 0,01).

Zudem sank nach der Dehnungsintervention die Ruheherzfrequenz (MD: -0,95 Schläge/Min., 95% KI: -1,67 bis -0,23 Schläge/Min., p = 0,009) und der diastolische Blutdruck (MD: -2,72 mm Hg, 95% CI: -4,01 bis -1,43 mm Hg, p < 0,0001).

Die Dauer der Trainingssitzungen, die Häufigkeit und die Dauer der Trainingsintervention reichten von 15-60 min/Sitzung, 3-7 Mal/Woche und 4-12 Wochen, mit einer Dehnungsintensität bis an die Schmerzgrenze. Hauptsächlich wurde eine aktive statische Dehnung durchgeführt.

Was kann man mitnehmen?

Die Bedeutung eines Dehntrainings für die generelle Gesundheit und als therapeutische Maßnahme wurde in den letzten Jahren zunehmend in Frage gestellt.31

Dagegen deuten aktuelle Erkenntnisse darauf hin, dass Muskeldehnung zu einem neuen Trainings-paradigma in der kardiovaskulären Medizin werden könnte (s. nächste Slide).6,32 Die Effekte auf die Gefäßsteifigkeit entsprechen der Wirkungsgröße von Ausdauertraining.30

Stretching kann daher als eine alternative oder ergänzende Intervention zu Ausdauertraining im Hinblick auf die Gefäßgesundheit gesehen werden.5,23 

Schematische Darstellung, die Alterung und einen inaktiven Lebensstil mit neurohumoralen Störungen, endothelialer Gefäßfunktionsstörung, Zunahme der arteriellen Steifigkeit und Bluthochdruck in Zusammenhang bringt und zeigt, wie Muskeldehnung schädliche Auswirkungen auf das Gefäßsystem mildern kann.6

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