Die Gemeinsamkeiten von Schmerz und Gedächtnis

Chronische Schmerzen können durch einen anhaltenden nozizeptiven Reiz aufgrund von Verletzungen oder Krankheiten entstehen, aber auch nach der Heilung der ursprünglichen Verletzung weiterbestehen. Analog zum Gedächtnis können chronische Schmerzen folgendermaßen erklärt werden:

  • mit dem Fortbestehen von Schmerzplastizitätsmechanismen
  • der Unfähigkeit, diese Schmerzplastizität, die durch die ursprüngliche Verletzung hervorgerufen wurde, zu beenden.

In diesem Zusammenhang können chronische Schmerzen als Folge plastischer Veränderungen in der limbisch-kortikalen Schaltungen konzipiert werden, was zu neuem Lernen und verstärkter maladaptiver Plastizität analog zu Gedächtnismechanismen führt, die aufgrund emotionaler Assoziationen mit schmerzhaften Reizen nicht gelöscht werden konnten.

Gemeinsamer MechanismusChronische/Persistierende SchmerzenLernen und Gedächtnis
Synaptische PlastizitätAktivitäts-abhängige synaptische Plastizität (wind-up, Zentrale Sensibilisierung) unterliegt inflammatorischen und neuropathischen Schmerzen. NMDA Rezeptoren-Beteiligung bei Zentraler Sensibilisierung (ZS). BDNF verstärkt die c-faser-evozierte Reaktion bei ZS Serotonin Dysregulation ist eine Mechanismus chronischer Schmerzen.Lernen und Gedächtnis stützen sich auf aktivitäts-abhängige LTP (Langzeitpotenzierung)  an ZNS-Synapsen. NMDA Rezeptoren-Beteiligung bei LTP. BNDF trägt zur synaptischen Plastizität in Zusammenhang mit verschiedenen Lernweisen bei. Serotonin-Signalwirkung spielt für das Lernen und Gedächtnis durch die Interaktion mit anderen Transmitter-Systemen eine Rolle. Kalzium-Signalwirkung durch NMDA-Rezeptoren oder spannungsabhängige Kalzium-Rezeptoren tragen zur LTP im Zusammenhang mit Gedächtnis bei.
Strukturelle VeränderungenKalzium-Signalweg durch NMDA-Rezeptoren oder spannungsabhängige Kalzium-Kanäle tragen zur ZS bei.Eine kortikale Reorganisation begleitet Lernen und Gedächtnis.
Anatomische ÜberlappungenZS umfasst Protein-Synthese und Synaptogenese. Veränderungen der Konnektivität in limbischen und kortikalen Arealen tragen zu chronischen Schmerzen bei. Kortiko-limbische Pfade sind am Übergang zur Schmerzchronifizierung beteiligt. Chronische Schmerzen sind mit funktionellen Veränderungen in Hippocampus und Amygdala assoziiert. Hippocampus-Aktivität steht mit Schmerzverstärkung durch Angst in Zusammenhang.Kortiko-limbische Kreisläufe sind wesentlich für das emotionale Lernen. Hippocampus und Amygdala wirken synergistisch für die Entwicklung von Langzeiterinnerungen bzgl. Bedeutender emotionaler Ereignisse.

Langzeitpotenzierung

(verändert nach Lamprecht & LeDoux 2004 )

Wie bei der zentralen Sensibilisierung, führt beim Lernen eine spezifische Stimulation zur Steigerung der synaptischen Effektivität, was über mehrere Mechanismen erfolgen kann.

 Diese Steigerung der Effektivität  führt zu einer stärkeren Reaktion der postsynaptischen Zelle auf einen gegebenen präsynaptischen Input.

LTP = Langzeitpotenzierung

Ein Modell der Hirnkreisläufe, die am Übergang von akuten zu chronischen Schmerzen beteiligt sind (nach Mansour et al. 2013). ACC, anteriorer cingulärer Kortex; Amyg = Amygdala; Hippo = Hippocampus; lPFC = lateraler präfrontaler Kortex;mPFC = medialer präfrontaler Kortex; NAc = nucleus accumbens.

Bei Patienten mit subakuten Rückenschmerzen konnte durch die Beobachtung einer stärkeren funktionellen Konnektivität von NAc und präfrontalem Kortex im Hirnscan mit einer  Genauigkeit  von 81% eine Chronifizierung der Schmerzen prädiktiert werden. (Apkarian et al. 2016)

Die Chronifizierung des Schmerzes kann als aktivitätsinduzierte Plastizität der limbisch-kortikalen Schleife verstanden werden,  was zu einer Reorganisation des Neokortex führt. Der Zustand des limbisch-kortikalen Netzwerks bestimmt, ob nozizeptive Signale vorübergehend oder chronisch auftreten, indem Pfade gelöscht oder Signale verstärkt werden, die die emotionale Komponente des nozizeptiven Inputs steigern. So kann ein chronischer Schmerz als das Fortbestehen der Erinnerung an Schmerzen und/oder die Unfähigkeit angesehen werden, schmerzhafte Erinnerungen zu löschen. Im Idealfall sollten pharmakologische, physische und/oder psychologische Ansätze die Reorganisation, die chronische Schmerzen begleitet, rückgängig machen.

Literaturangaben

Primärquelle: Pain Pathways and Nervous System Plasticity: Learning and Memory in Pain Bill Mccarberg-John Peppin – Pain Medicine – 2019