Neurophysiologische Mechanismen chronischer Rückenschmerzen

Sowohl das periphere (z.B. nozizeptive Endigungen) als auch das zentrale Nervensystem (z.B. Rückenmark und Gehirn) können bei Rückenschmerzen so verändert werden, dass sich die Sensibilität erhöht (z.B. Erhöhung der synaptischen Übertragung durch Langzeitpotenzierung), so dass die Schmerzverarbeitung und die Schutzreaktionen bei Rückenschmerzpatienten verstärkt sein kann(Baliki & Apkarian 2015).  Peripher können Gewebe (z.B. Bandscheiben) durch chronische Entzündungszustände gekennzeichnet sein, die die nozizeptive Reizstärke an synaptischen Endigungen bei chronischen Rückenschmerzpatienten erhöhen (Rustenburg et al. 2018). Am Rückenmark wird die Überempfindlichkeit durch proinflammatorische Zytokinfreisetzung, Astrozyten- und Gliazellaktivierung gesteigert, die den absteigenden hemmenden Einfluss reduzieren und die synaptische Effizienz von aufsteigenden nozizeptiver Reize (z.B. wind-up) erhöhen können (D’Mello et al. 2008).  Das Auftreten eines Wind-up-Phänomens kann durch ein zeitliche Summationsparadigmen bewertet werden, wobei kurze sich wiederholende mechanische, thermische oder elektrische Reize verwendet werden, die 1-3 mal pro Sekunde für 5 bis 10 Sekunden appliziert werden (Arendt-Nielsen et al. 1994). Im Falle eines erhöhten Wind-up-Mechanismus wird sich die zeitliche Schmerzreaktion von der ersten bis zur letzten Wiederholung zunehmen (Staud et al. 2001). Dieser Prozess innerhalb des Rückenmarks kann zu dynamischen Veränderungen in spinalen Neuronen zweiter Ordnung (z.B. Hinterhorn) führen, die für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der zentralen Sensibilisierung bei chronischen Rückenschmerzen von Bedeutung ist (Meacham et al. 2017).

Man versteht heute die zentrale Sensibilisierung als einen übergreifenden Rahmen , um die Aktivitätsveränderungen in Hirnnetzwerken am Übergang von akuten zu chronischen Schmerzen besser erklären zu können (Hashmi et al. 2013). Bei akuten oder experimentellen Schmerzzuständen werden  primär solche Neurotags aktiviert, die hauptsächlich an der Verarbeitung der sensorisch diskriminierenden Natur von Schmerzen beteiligt sind (z.B. somatosensorischer Kortex), während sich die Aktivität bei chronischen Schmerzen auf die Areale verlagert, die an der emotionalen Verarbeitung beteiligt sind (z.B. präfrontaler Kortex, Hashmi et al. 2013). Diese Veränderungen beeinflussen die Expression und das Erleben von Schmerzen als Folge des Zusammenspiels von physiologischen (z.B. motorischen, sensorischen, autonomen) und psychologischen (z.B. Emotions-, Kognitions-, Lern-) Systemen (Kucyi & Davis 2015).

Über diese Mechanismus kann man auch erklären, warum auf der Verhaltensebene bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen Defizite,  z.B. in Bereichen der Kognition und der Gedächtnisfunktion zu beobachten sind (Simons et al. 2014). Es ist mittlerweile Konsens, dass die Intensität der Schmerzen durch psychologische Faktoren modifiziert werden kann, die durch neurobiologischen Pfaden vermittelt werden und dass diese Faktoren Funktionsverluste und die Reaktion auf die Erkrankung beeinflussen. Daher ist es dringend erforderlich, die Mehrdimensionalität von Schmerzen bei der Beurteilung und Behandlung von chronischen Rückenschmerzen zu beachten.

Periphere Nervenläsion

Periphere Nervenläsionen innerhalb des somatosensorischen Systems können beobachtet werden und tragen zu peripheren neuropathischen Schmerzen bei. Klinische Präsentation: Brennen, Taubheit, Kribbeln und Sensibilität gegenüber leichtem Druck oder Berührung.

Nozizeption

Ein afferenter Input von mechanischen, thermischen und chemischen Stimuli. Inflammation kann zur primären Hyperalgesie beitragen. Klinische Präsentation: Höhere Sensibilität des schmerzhaften Bereiches.

Verarbeitung im Rückenmark

Hypersensibilität von spinalen Neuronen zweiter Ordnung aufgrund einer reduzierten inhibitorischen Wirkung auf die nozizeptive Information. Eine Zunahme der inflammatorischen Zytokine und eine Gliazellaktivierung können zu einer sekundären Hyperalgesie beitragen. Klinische Präsentation: Zunahme der Schmerzantwort auf multiple Stimuli der selben Intensität (wind-up-Phänomen)

Verarbeitung im Gehirn

Ausgeprägte Veränderungen in neuronalen Netzwerken und eine kortikale Umstrukturieren können vorkommen. Eine Wechsel von Hirnkreisläufen mit nozizeptiver Funktion zu Kreisläufen mit kognitiv-emotionaler Funktion werden beschrieben. Klinische Präsentation: Kann sich als lokale und distale Hypersensibilität gegenüber normalen Reizen ausdrücken und Konsequenzen für Stimmungslage, Kognitionen und Komorbiditäten haben.

Absteigende Modulation

Deszendierende Pfade können auf der Grundlage von Kontext- und psychischen Faktoren, wie Angst, Stress, Emotionen, Katastrophisierung, Stimmung, wahrgenommener Gefährlichkeit und Schmerzerinnerungen afferente nozizeptive Stimuli verändern. Klinische Präsentation: Individuelle psychosoziale Faktoren können klinische Symptome und Behandlungsergebnisse beeinflussen.

Schmerz

Eine protektive Reaktion des zentralen Nervensystems, die durch verschiedene Faktoren verändert werden kann. Klinische Präsentation: Abhängig vom Patienten können nozizeptiven, neuropathischen oder noziplastischen Ursachen für Schmerz zur klinischen Präsentation beitragen.

Literaturangaben

Primärquelle: Tagliaferri, Scott D., et al. “Domains of chronic low back pain and assessing treatment effectiveness: A clinical perspective.” Pain Practice (2019).