Multidimensionale Treibermodelle für Schmerz und Funktionsverlust bei MSK-Problemen: Der biopsychosoziale Schmerzradar

Einleitung

Viele physiotherapeutischen Konzepte beschreiben die Wichtigkeit eines „guten“ Clinical Reasonings (CR) und betonen – sicher nicht überraschend – häufig die angeblichen Alleinstellungsmerkmale ihres Konzeptes. Aber was heißt in diesem Kontext überhaupt „gut“ und was macht diese Konzepte so einzigartig und wertvoll?

Hier würden wir gerne 4 Dinge anmerken:

  1. Wenn man das ICF-Modell bzw. das biopsychosoziale Modell ernst nimmt, dann sind multidimensionale „Treibermodelle“ (d.h. welche sind auf einer individualisierten, patientenzentrierten Basis die wahrscheinlichen Treiber von Schmerz und Funktionsverlust) die logische Folge und ein Anforderungskriterium an evidenzbasierte PT-Konzepte (Lin et al. 2019, O`Sullivan 2018, Malfliet et al. 2019, Decary et al. 2020, Tousignant-Laflamme et al. 2017, Low et al. 2017).
  2. Traditionell fokussieren sich die meisten Konzepte häufig eindimensional auf mechanische Muster. Alles andere ist häufig eher Beiwerk. Und selbst wenn solchen Faktoren eine adäquate Rolle zugeschrieben wird, wissen die Teilnehmer solcher Kurse vielleicht um die Bedeutung multidimensionaler Treiber, aber sind deswegen noch lange nicht in der Lage, diese auch adäquat anzugehen (z.B. fehlen häufig kommunikative Fertigkeiten, Wissen um psychologisch-informierte PT-Ansätze, Screening-Methoden,  etc.).
  3. Bislang fehlt eine klare Überlegenheit eines Konzeptes auf der nozizeptiv-physiologischen Ebene (d.h. für einen Ansatz auf der Grundlage einer konzeptspezifischen Subgruppe, z.B. Riley et al. 2018, Maissan et al. 2020).
  4. Ein Verständnis der Multidimensionalität von Erkrankungen würde auch die Türe zu einem interdisziplinären Arbeiten öffnen, das in weiten Teilen des deutschen Gesundheitssystems leider immer noch nicht flächendeckend umgesetzt wird. Moderne PT muss multidimensional sein, aber auch die eigenen Grenzen und die Chancen einer interdisziplinären Zusammenarbeit erkennen.

Eine Möglichkeit ein solches multidimensionales Treibermodell für Schmerz und Funktion bzw. für das individuelle Management darzustellen, ist ein „Schmerz- und Funktionsradar“, der auf den folgenden beschrieben ist.

KO-MORBIDITÄT

  • Andere MSK-Probleme (z.B. Arthrose)
  • Störungen im Zusammenhang mit der Schmerzsensibilisierung wie chronische Müdigkeit, Migräne, Reizdarmsyndrom oder Fibromyalgie
  • Störungen der psychischen Gesundheit (Ängste, Depression)
  • Schlafstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen
  • Übergewicht

NOZIZEPTIV-PHYSIOLOGISCH

  • Spezifisches mechanisches Muster
  • Kein Muster, z.B. bei aktivem Entzündungsprozess
  • Erkennbare strukturelle Defizite, z.B. Fraktur, post-OP

PERIPHER NEUROPATHISCH

  • Radikuläres Schmerzmuster
  • Kribbeln/Parästhesien oder brennende/einschießende Schmerzen
  • Anzeichen einer Radikulopathie
  • Anzeichen von Myelopathie
  • Nachweis einer erhöhten neuronalen Mechanosensitivität

KONTEXT: SOZIAL & UMWELT

  • Niedrige Erwartungen an die Rückkehr in die Arbeitswelt
  • Geringe Arbeitszufriedenheit, hohe Arbeitsbelastung
  • Geringe Arbeitsflexibilität (nicht veränderbare Arbeit oder Stundenzahl)
  • Soziale Unterstützung durch die Familie, Arbeitgeber oder Ärzte und Therapeuten
  • Ungünstige Botschaften von Ärzten, Therapeuten
  • Bedenken bzgl. Arbeit

EMOTIONAL/AFFEKTIV & KOGNITIV

  • Schmerzkatastrophisierung, schmerzbedingte Angst, Bewegungsangst •Negative Stimmung, geringe Erwartung einer Genesung
  • Geringe Selbstwirksamkeit, hohe Krankheitswahrnehmung, Schmerzerwartungen, negativ/geringe Erwartung einer Erholung
  • Ungünstiges Schmerz-Coping, geringe Kenntnisse über die Schmerzwissenschaft
  • Schmerzverhalten (Grimassen schneiden oder zucken), verbale/ paraverbale Schmerzexpression (Schmerzwörter, Grunzen, Seufzen und Stöhnen)
  • Angst-Vermeidung, Schutzspannung (den Rücken gerade halten)
  • Dissonanz zwischen angegebenen Verhaltensweisen (durch den Patienten) und beobachteten Verhaltensweisen (durch den Therapeuten)

ZENTRAL NOZIPLASTISCH

  • Nachweis einer Hyperalgesie (niedrigere Schmerzschwelle an distalen Stellen)
  • Anzeichen von Allodynie (provoziert oder spontan)
  • Hinweise auf weitverbreitete Schmerzlokalisation: weitverbreitete Schmerzen, außerhalb der anatomischen Beziehung zu Schmerzen im unteren Rücken
  • Nachweis einer unverhältnismäßig hohen Schmerzintensität im Kontext der Verletzung
  • Sensorische Überempfindlichkeit, die nicht mit dem Bewegungsapparat zusammenhängt
  • Nachweis einer Störung des sympathischen Nervensystems (Schwitzen/Trockenheit, Änderungen der Hauttemperatur)
  • Symptome einer Dysästhesie
  • Schlafstörungen als Folge von schmerzhaften Symptomen

Walton & Elliott (2018),  Louw et al. (2019), Decary et al. (2020)