Mehr Kraft und Effizienz beim maximalen Heben mit einer flektierten LWS-Haltung im Vergleich zu einer Extendierten!

Hintergründe

Therapeuten und Ergonomie-Berater empfehlen üblicherweise ein Heben mit einer “geraden” oder extendierten statt einer gebeugten Lendenwirbelsäule [4,5].

Diese Praxis wurde jedoch kürzlich in Frage gestellt, da es keine In-vivo-Forschung gibt, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen einer gebeugten Lendenwirbelsäule beim Heben und Schmerzen im unteren Rückenbereich nachweisen konnte[1]. Darüber hinaus  minimieren ergonomische Maßnahmen, die dazu raten, die LWS-Flexion beim Heben zu minimieren, nicht das Auftreten von Rückenschmerzen [2]. Zudem berichten Menschen mit und ohne Rückenschmerzen, auch Physiotherapeuten, dass sie Angst vor dem Heben mit gebeugter Lendenwirbelsäule haben [3].

Diese Ergebnisse unterstreichen die Unsicherheit bezüglich der aktuellen Hebeempfehlungen.

Was wurde untersucht?

26 gesunde Probanden nahmen eine der 3 lumbalen Hebehaltungen ein: a maximale Extension (lordotisch), b mid-range (flacher Rücken) und c vollständig gebeugt.

Gemessen wurde mittels Bewegungsanalyse und Kraftmessungen die Rückenstrecker-, Hüft- und Kniemomente bei maximaler isometrischer Hebeleistung . Durch Oberflächen-Elektromyographie (EMG) wurde die Aktivität von drei Rumpfextensoren (oberer, unterer Erector spinae & Multifidus) sowie internem Obliquus (IO) aufgezeichnet. Zudem wurde die neuromuskuläre Effizienz (NME) als Verhältnis des normalisierten Streckermoments (muskuläre Drehmomente) zum normalisierten EMG (Muskelaktivität) bestimmt.

Ergebnisse

Signifikant höhere Rücken-streckermomente  konnten beim Übergang von einer gestreckten zu einer mittleren und von einer mittleren zu einer vollständig flektierten LWS-Haltung ausgeübt werden.

Gleichzeitig war die Aktivität aller drei Rückenstreckermuskeln in der Flexion deutlich geringer (40% der maximalen Aktivität mit vollständig flektierter vs.75% in extendierter Position, p<0,001), was zu einer höheren neuromuskulären Effizienz (NME) dieser Muskeln in stärker gebeugter Haltung führte. 

Die Veränderung der lumbalen Haltung hatte keinen Einfluss auf die Hüft- oder Kniemomente oder die Aktivierung des IO.

Gründe

Als Grund dafür sehen die Autoren ein nicht-optimales Kraft-Längen-Verhältnis der Rückenstrecker in der extendierten Position, so dass der Bedarf an muskulärer Aktivierung mit potenziell negativen Folgen erhöht wird. (höhere metabolische Belastung, mehr Kompression). [6,8]

Im Gegensatz dazu optimiert sich das Kraft-Längen-Verhältnis in flektierter Position, was die Kapazität der Rückenstrecker, viel Kraft bei geringer Aktivierung zu generieren, erklären kann. Zudem können die passiven Strukturen in der LWS (z.B. das posteriore Ligamentsystem) bei einer Beugung > 80% der max. Flexion zusätzlich rekrutiert werden, was wiederum zu den genannten Vorteilen beitragen könnte. [6,7]

Was heißt das jetzt?

Zusammengenommen können diese Ergebnisse Auswirkungen auf die ergonomische Beratung von Menschen haben, die viel und häufig heben müssen!

Erstens scheint der Ratschlag, beim Heben eine LWS-Haltung wie beim aufrechten Stehen einzunehmen, unerreichbar zu sein.

Zweitens scheint die Anweisung, eine Lendenlordose (geraderer Rücken) während des Hebens beizubehalten, eine signifikant schlechtere neuromuskuläre Effizienz zu bedingen.

 Da zudem die In-vivo-Evidenz dafür fehlt, dass das Heben mit gebeugtem Rücken zu Rückenschmerzen führt, sollte die aktuelle Hebeempfehlung “Heben mit geradem oder lordotischem Rücken” nach Ansicht der Autoren weiter hinterfragt werden.

Literaturangaben

Primärquelle: Grant Mawston, Laura Holder, Peter O’Sullivan, Mark Boocock, Flexed lumbar spine postures are associated with greater strength and efficiency than lordotic postures during a maximal lift in pain-free individuals,Gait & Posture, 2021,

  1. N. Saraceni, P. Kent, L. Ng, A. Campbell, L. Straker, P. O’Sullivan, To Flex or Not  to Flex? Is There a Relationship Between Lumbar Spine Flexion During Lifting and  Low Back Pain? A Systematic Review With Meta-Analysis, The Journal Of Orthopaedic And Sports Physical Therapy  (2019) 1-50.
  2. K.P. Martimo, J. Verbeek, J. Karppinen, A.D. Furlan, E.P. Takala, P.P.F.M. Kuijer, et al., Effect of training and lifting equipment for preventing back pain in lifting and handling: Systematic review, BMJ 336(7641) (2008) 429-431.
  3. J.P. Caneiro, P. O’Sullivan, A. Smith, I.R. Ovrebekk, L. Tozer, M. Williams, et al., Physiotherapists implicitly evaluate bending and lifting with a round back as  dangerous, Musculoskeletal Science and Practice 39 (2019) 107-114.
  4. D. Denis, M. Gonella, M. Comeau, M. Lauzier, Questioning the value of manual material handling training: a scoping and critical literature review, Appl. Ergon. 89
  5. D. Nolan, K. O’Sullivan, J. Stephenson, P. O’Sullivan, M. Lucock, What do physiotherapists and manual handling advisors consider the safest lifting posture, and do back beliefs influence their choice?, Musculoskeletal Science and Practice 33 (2018)
  6. P. Khoddam-Khorasani, N. Arjmand, A. Shirazi-Adl, Effect of changes in the  lumbar posture in lifting on trunk muscle and spinal loads: A combined in vivo,  musculoskeletal, and finite element model study, J. Biomech. 104 (2020).
  7. P. Dolan, A.F. Mannion, M.A. Adams, Passive tissues help the back muscles to  generate extensor moments during lifting, J. Biomech. 27(8) (1994) 1077-1085.
  8. K.B. Hagen, K. Harms-Ringdahl, J. Hallén, Influence of lifting technique on perceptual and cardiovascular responses to submaximal repetitive lifting, Eur. J. Appl. Physiol. Occup. Physiol. 68(6) (1994) 477-482