Ionen-Kanäle – Wo Nozizeption beginnt

Nozizeption ist der neuronale Prozess der Kodierung potenziell schädlicher Reize, während Schmerz als unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung definiert wird, die mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung assoziiert ist oder als solche beschrieben wird.1

RVM: Rostroventrale Medulla
PAG: Zentrales Höhlengrau
 LC: Locus coeruleus
SSC: Somatosensorischer Cortex
CC: Cingulärer Cortex

Hochschwellige Nozizeptoren werden durch intensive mechanische, thermische oder chemische Reize aktiviert und leiten diese Informationen an nozizeptive Neuronen im Rückenmark weiter, die über den Thalamus in kortikale Bereiche projizieren und die sensorischen und emotionalen Qualitäten des Schmerzes erzeugen. Diese Rückenmarksbahnen sind dem Einfluss hemmender und fazilitierender Einflüssen des Hirnstamms ausgesetzt.2, 3,4,11,19

Nozizeptoren signalisieren zusammen mit nicht-nozizeptiven Rezeptoren eine Gefährdung der Homöostase und damit nicht nur nozizeptive („schädliche“) Reizkonfigurationen! (Ziel: Aufrechterhaltung des inneren, organischen Milieus in gewissen Grenzen!)

Erst wenn die Wiederherstellung der Homöostase eine bewusste Reaktion verlangt, spüren wir Schmerz.

…Nozizeptoren sollten daher eher als Homöozeptoren bezeichnet werden.9

„There is nothing innate to primary afferent nociceptors that endow them, and only them, with the capacity to evoke pain.”10,20

Die Aktivierung der Nozizeptoren findet meist über Ionenkanäle statt3,4,18,19

Ionenkanäle sind Proteine, die zu einem Kanal „verklumpt“ sind. Sie werden hauptsächlich im Hinterwurzelganglion auf der Grundlage der genetischen Kodierung (DNA) gebildet. Einmal gebaut , werden sie entlang des Axons mittels axoplasmatischem Transport zu ihrem Bestimmungsort gebracht.

Ionenkanäle regulieren den Ionenfluss durch die Membran in allen Zellen, wobei das Öffnen und Schließen dieser Kanäle durch verschiedene Signale gesteuert wird:

  1. Spannungskanäle – Hauptsächliches Öffnen/Schließen aufgrund der elektrischen Aktivität der Ionen.
  2. Chemische Kanäle – Sie öffnen den Kanal aufgrund der zirkulierenden Flüssigkeit in der Umgebung, wie z.B. Adrenalin.  Hier in der Abb. dockt Adrenalin am Ionenkanal an und fungiert als Schlüssel, um den Kanal zu öffnen. Ein Grund also, warum Stress Schmerz verstärken kann.
  3. Temperaturkanäle – Öffnen und Schließen bei Temperaturänderungen.
  4. Mechanische Kanäle – Ein mechanischer Kanal mit einem Zytoskelett aus Kollagen kann durch mechanische Reize, z.B. Druck oder Zug, geöffnet werden.
  5. Immunkanäle – Öffnen durch Immunmoleküle, wie z.B. Zytokine.
  6. Spannungsgesteuerte Protonenkanäle öffnen sich mit Depolarisation, aber in einer sehr pH-sensitiven Weise.

Aktivierung der Nozizeptoren (Transduktion)3,4

  • Ionenkanäle fügen sich in die Außenwand des Axons (Axolemma) ein und bilden einen Kanal (Gate) zwischen der äußeren und inneren axonalen Umgebung.
  • Ionenkanäle lassen elektrisch geladene (positive und/oder negative) Ionen in das Axon hinein oder aus dem Axon heraus fließen, was wiederum die elektrische Ladung/den Gradient innerhalb des Axons verändert.
  • Im Inneren des Axons liegt ein Ruhemembranpotential von etwa 70 Millivolt vor, was bedeutet, dass die Innenseite des Neurons 70 Millivolt weniger als die Außenseite hat. In Ruhe befinden sich relativ mehr Natriumionen außerhalb des Neurons und mehr Kaliumionen innerhalb des Neurons.3,4
  • Je nach Anzahl und Art der Ionen, die über Ionenkanäle in das Axon ein- bzw. aus dem Axon ausströmen, kann ein Aktionspotential entstehen. Sobald ein Ruhemembranpotential von -55 Millivolt erreicht wird, ergibt sich ein Aktionspotential (elektrischer Spike/Meldung).3,4

Fakten zu Ionenkanälen

  • Momentan kennt man mehrere 100 solcher Ionenkanal-Typen.
  • Es wird geschätzt, dass ein einzelnes Axon etwa 1 Million Ionenkanäle enthält, so dass der menschliche Körper Billionen über Billionen von Ionenkanälen besitzt. 4
  • Sie leben wie Schmetterlinge etwa 2 Tage, was eine kontinuierliche neuroplastische Anpassung der Sensibilität des Nervensystems erlaubt.6,8
  • Die Verteilung und Expression dieser Ionenkanäle repräsentiert dabei den wahrgenommenen Bedarf an Information, d.h. das Nervensystem entscheidet darüber, welche  und wie viele Infos es aus dem Gewebe braucht, um unser Überleben optimal sicherzustellen.3 
  • Eine „Überexpression“ solcher Ionenkanäle sensibilisiert das Gewebe, was allerdings auch wieder rückgängig gemacht werden kann.3,4

Periphere Sensibilisierung2,10-17

Eine periphere Sensibilisierung tritt am charakteristischsten nach einer peripheren Entzündung auf und umfasst eine Senkung der Schwelle und eine Erhöhung der Erregbarkeit der peripheren Nozizeptorendigungen als Reaktion auf die Sensibilisierung durch inflammatorische Mediatoren.

Dies führt dazu, dass harmlose Reize im Bereich der Entzündung, wie z.B. leichte Berührung, Wärme oder Kälte als schmerzhaft empfunden werden (Allodynie) und Reize, die normalerweise als unangenehm oder leicht schmerzhaft wahrgenommen werden, wie z.B.  Nadelstiche, im Primärbereich einer Inflammation extrem schmerzhaft werden (Hyperalgesie).

Mechanismen:

  • in?ammatorischen Mediatoren sensibilisieren Proteine (Ionenkanäle)
  • die Aktivierung durch endogene Agonisten hält an
  • ererbte Polymorphismen der Signalproteine tragen bei •Insgesamt findet eine Erhöhung der Membranerregbarkeit statt

FAZIT3,4

  • Seltsame Symptome sind real, und die Patienten “erfinden sie nicht”. Sie KÖNNEN empfindlich auf verschiedene nicht-mechanische Reize wie Stress und Kälte reagieren.
  • Das System ist plastisch, und so wie es für bestimmte Reize empfindlicher werden kann, kann es auch weniger empfindlich werden. Dies kann Menschen mit Schmerzen Hoffnung geben.
  • Ionenkanäle unterstreichen die Prämisse des Biopsychosozialismus: Stressbewältigung, Entspannung, Schlafhygiene etc. sollten ebenfalls zum Repertoire des modernen Therapeuten gehören, um das sensibilisierte Nervensystem zu beruhigen.
  • Das Nervensystem ist keine feste Konstante bei der Übertragung von Impulsen. Das Axon kann in der Tat die an das ZNS gesendete Botschaft verändern (verstärken oder vermindern) und somit eine bedeutende Rolle in der Therapie von Schmerzen spielen.

Literaturangaben

  1. St John Smith E. (2018). Advances in understanding nociception and neuropathic pain. Journal of neurology, 265(2), 231–238. https://doi.org/10.1007/
  2. von Hehn CA, Baron R, Woolf CJ. Deconstructing the neuropathic pain phenotype to reveal neural mechanisms. Neuron. 2012;73(4):638-652. doi:10.1016/j.neuron.2012.02.008
  3. Louw, A., Puentedura, E., Schmidt, S., & Zimney, K. (2018). Pain neuroscience education: teaching people about pain. OPTP.
  4. Louw, A., Puentedura, E., Schmidt, S., Zimney, K. (2020). Integrating Manual Therapy and Pain Neuroscience: Twelve principles for treating the body and the brain. Orthopedic Physical Therapy Products.
  5. Devor, M. (1999). Unexplained peculiarities of the dorsal root ganglion. Pain, Supplement6: S27-S36.
  6. Devor, M. (2005). Response of nerves to injury in relation to neuropathic pain. Melzackand wall’s Textbook of Pain. S. McMahonand M. Koltzenburg. Edinburgh, Elsevier.
  7. Devor, M. (2006). Sodium channels andmechanisms of neuropathic pain. J Pain,7(1 Suppl 1): S3-S12.
  8. Devor, M., R. Govrin-Lippmann andK. Angelides (1993). Na+ channel immunolocalization in peripheral mammalian axons and changes followingnerve injury and neuroma formation.Journal of Neuroscience, 13: 1976-1992
  9. Brodal P. A neurobiologist’s attempt to understand persistent pain. Scand J Pain. 2017;15:140-147. doi:10.1016/j.sjpain.2017.03.001
  10. Prescott SA, Ratté S. Pain processing by spinal microcircuits: afferent combinatorics. Curr Opin Neurobiol. 2012;22(4):631-639. doi:10.1016/j.conb.2012.02.010
  11. McMahon, S. B., Koltzenburg, M., Tracey, I., & Turk, D. (2013). Wall & melzack’s textbook of pain e-book. Elsevier Health Sciences.
  12. Abd-Elsayed, A. (Ed.). (2019). Pain: A Review Guide. Springer.
  13. Gold, M. S., & Gebhart, G. F. (2010). Nociceptor sensitization in pain pathogenesis. Nature medicine, 16(11), 1248-1257.
  14. Yong, R. J., Nguyen, M., Nelson, E., & Urman, R. D. (Eds.). (2017). Pain medicine: an essential review. Springer.
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  20. Apkarian AV. Nociception, Pain, Consciousness, and Society: A Plea for Constrained Use of Pain-related Terminologies. J Pain. 2018;19(11):1253-1255. doi:10.1016/j.jpain.2018.05.010