Dynamischer Knievalgus – Phönix aus der Asche

  1. Das Risiko für eine Knieverletzung steht in Zusammenhang mit Abweichungen vom optimalen Alignment der unteren Extremität (Boling et al., 2009; Lankhorst et al., 2013)
  2. *Der dynamische Knievalgus ist eine vom optimalen Alignment „abweichende“ Bewegung in 3 Ebenen:
    • Innenrotation des Femur
    • Adduktion des Femur
    • Abkippen den Beckens auf der
    • kontralateralen Seite (pelvic drop) (Hewett et al., 2005)
  3. Der DKV wird in der Regel von vielen als einer der wichtigsten Prädiktoren von Knieverletzungen angesehen. (Hewett et al., 2005)
  4. Aber: Eine ausreichende Validität von Screening Tests (zBsp. der Vertikale Drop-Jump) die den DKV als Risikofaktor identifizieren sollen, ist fraglich:
    • In einer prospektiven Kohortenstudie mit 710 Profifußball- und Handballspielerinnen konnte kein deutlicher Zusammenhang zwischen Parametern des Vertikalen Drop Jumps und einem erhöhten Verletzungsrisiko des vorderen Kreuzbandes festgestellt werden. (Krosshaug, 2016)

Warum wird der Vertikale Drop-Jump ob fehlender Validität trotzdem als Prädiktor für Knieverletzung angesehen?

Ein grundlegender Denkfehler: Die Komplexität des DKV wird oft unglücklicherweise mit einer „Reduktionsbrille“ betrachtet.

Man versucht die Komplexität in Unterpunkte zu zerlegen (siehe Kasten II.*) und eine scharfe Trennlinie zwischen RICHTIG und FALSCH zu ziehen.

Dies geht auf Kosten der Wahrnehmung und Bewertung EINER komplexen Bewegung. 

Vorschlag der Autoren Dischiavi et al.:

Davon ausgehend, dass die Vorhersage einer Knieverletzung komplex ist, macht es wenig Sinn diese Komplexität zu vereinfachen indem man zBsp. den Knievalgus auf verschiedene „Unterbewegungen“ reduziert und diese isoliert voneinander bewertet.

Besser wäre der Versuch die Bewegung des Knievalgus mit einer lumbopelvischen Bewegung auf 3 Ebenen zu beschreiben:

die Beckenpronation.

Eine Vorhersage über ein mögliches Verletzungsrisiko ist komplex und wird von 2 wesentlichen Faktoren beeinflusst:

  • durch eine Bewegung des Beckens (auf 3 Ebenen) über dem Femur
  • über ein geschlossenes System muskulärer Spannung (systemische Muskelspannung)

Diese beiden Variablen interagieren miteinander und beeinflussen sich gegenseitig.

Die logische Konsequenz:

Beckenpronation und systemische Muskelspannung werden innerhalb von Assessments als als 3-D Konstrukt beobachtet und bewertet.

Der Dynamische Knievalgus wird demnach als normale und notwendige Reaktion auf Bodenreaktionskräfte angesehen.

die Beckenpronation

Beckenpronation in 3 Ebenen & Kopplung von Bewegung

Im Einbeinstand wird oft die Position des Femurs in Bezug zum  Knie betrachtet. Die Position des Acetabulums in Bezug zum Femur scheint hingegen weniger berücksichtigt zu werden.

Da ein Becken, das sich im Einbeinstand über einem fixierten Femur bewegt, normale Biomechanik darstellt, kann die „Buchse-über-Kugel“ – Bewegung in 3 Ebenen stattfinden. Sie ist nötig als Antwort gegenüber Bodenreaktionskräften und kann als notwendige Komponente menschlicher Bewegung angesehen werden.

Bewegung im lumbopelvicalen Hüftbereich bei Bodenreaktionskräften ist eine Kombination aus stoßdämpfenden Bewegungen, welche das Becken in eine anteriore Kippung, in eine Vorwärtsrotation, in eine kontralaterale Abkippbewegung (hip drop) und gleichzeitig in eine Wirbelsäulenextension mit Rotation und relativer Sacrumnutation bringen.

Eine Bewegung des Beckens in 3 Ebenen ist also ähnlich wie eine Fußpronation zu verstehen: Ein wichtiger Mechanismus um Bodenreaktionskräfte zu kompensieren und wichtiger „Vorbereiter“ von effektivem Vortrieb während dem Gang.

Bei der Vorhersage von Verletzungen muss ist die Beckenpronation  demnach (wie auch die Fußpronation) Teil eines intergrierten, komplexen Systems und nicht eine isolierte Bewegung.

Die Autoren schlagen einen Paradigmenshift vor: eine Beckenpronation in 3 Ebenen, welche mit der unteren Extremität gekoppelt ist.

Systemische Spannung + „Big Picture“

Ein gängiges Beispiel dafür, wie wichtig systemische Spannung für die Athletenleistung ist, ist der Baseballpitcher:

eine globale Körperbewegung (Ausholen mit Körperrotation) führt zur Speicherung von Energie, die bei der Auflösung als Bewegungsenergie auf den Ball übertragen wird. Je mehr die Spannung von der Unteren Extremität über den Rumpf und die Arme bis hin zum Ball aufgebaut wird, umso größer ist die Spannung in den Muskelketten. Findet nun eine muskuläre Unterbrechung der Spannungsübertragung statt, indem zBsp die Skapuläre Anbindung nicht gegeben ist, kann entsprechend weniger Energie auf die Hand und den Ball übertragen (=Verlust von gespeicherter Energie). Der Ball fliegt weniger schnell.

Tak (2018) geht davon aus, dass die endgradige Bewegung des Hüftgelenkes weniger einen absoluten Wert darstellt, als vielmehr von den relativen Positionen des Beckens und des Rumpfes moderiert wird. Außerdem geht er davon aus, dass „kinetische Ketten“ nicht nur konzeptionelle Wege, sondern physikalische Einheiten sind, welche viskoelastische Spannung im Körper vorschreiben (siehe auch Wilke, 2016).

Für die Moderierung von tendinomuskulärer Spannung zwischen Rumpf und unterer Extremität kann die 3D-Beckenpronation über einem fixierten Femur eine Schlüsselrole einnehmen (Tak, 2018). Nachdem beispielsweise am Ende des Ausholens  beim Golfschwung die linke Hüfte und das Knie das Alignment mit der Rumpfposition halten, generieren sie Stabilität und speichern systemische Energie, die später aufgelöst und auf den Ball übertragen wird.

Hier dargestellt durch das gespannte Gummiband, welches die miteinander verbundenen kinetischen Ketten zeigen soll.

In Bild 2 zeigt sich ein DKV auf der linken Seite. Das Gummiband hängt loose herab. Energie, die eigentlich gespeichert werden sollte, geht verloren. Es kann weniger Energie auf den Ball übertragen werden. Der Ball fliegt weniger weit.

Die 3D Position des gesamten muskuloskeletalen Systems ist maßgebend für die Höhe der Spannung die im Körper gespeichert werden kann.  So gesehen unterscheidet sich dieses Konstrukt von Determinanten wie zBsp. Kraft, weil ein bestimmter Muskel immer nur so kräftig sein kann, wie die Position in der er sich befindet Spannung entwickeln kann.

Die Fähigkeit eines Athleten systemische Spannung während einer funktionellen Aufgabe zu entwickeln,  kann somit eine Begründung sein, warum bestimmte Athleten unterbewusst dynamischen Knievalgus anwenden ohne sich zu verletzen. Vgl Usain Bolt beim Verlassen des Startblocks.

Vor diesem Hintergrund kann es keine bestimmte Grenze in der Bewegung des dynamischen Knievalgus geben, die man als potentiell gefährlich einstufen kann.

Zusammenfassung

  1. Der DKV ist eine Bewegung, die in 3 Ebenen stattfindet um Bodenreaktionskräfte abzufangen und sollte als normale Bewegung aufgefasst werden, die eher Kontrolle als Prävention benötigt.
  2. Eine globale, systemische Spannung ist abhängig von der dreidimensionalen Positionierung des Körpers und beeinflusst die Leistung eines Athleten direkt.
  3. Die Analyse der Rumpf- und Beckenbewegung über dem fixierten Femur (Beckenpronation) kann neue Assessmentstrategien und therapeutischen Übungsformen und neue Behandlungsstrategien eröffnen.

Fazit für die Praxis

Wenn ein DKV während einer bestimmten Aufgabe oder zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachtet wird, sollte sich die Frage gestellt werden: „Wie wird der DKV die Spannung in der kinetischen Kette beeinflussen?“

„Ist diese Bewegung unsicher?“ gehört in die Tonne.

Literaturangaben

Primärquelle: Rethinking Dynamic Knee Valgus and Its Relation to Knee Injury: Normal Movement Requiring Control, Not Avoidance, Dischiavi et al., J Orthop Sports Phys Ther 2019;49(4):216-218