Der konditionierte Schmerz

Stellt euch folgenden Versuch vor: Ihr sollt im Rahmen eines Experiments nach einer Vorgabe mit dem Joystick , das rechte bzw. li. Ziel auf dem Bildschirm wiederholt ansteuern. In 80% der Versuche erhaltet Ihr einen Stromschlag an der Schulter, sobald Ihr das re. Ziel trefft. Beim li. Ziel ist dagegen alles normal.

Nach einer Pause werden im zweiten Durchlauf jetzt in zufälliger Art und Weise 50% der Versuche auf das re. bzw. li. Ziel mit einem Stromstoß an der Schulter versehen, der im Bereich Eurer individuellen Schmerzschwelle liegt.

 Was denkt Ihr? Werdet Ihr die Schmerzintensität bei einer Bewegung auf die beiden Ziele gleich einschätzen bzw. die Versuche gleich häufig als schmerzhaft einstufen?

Genau dieses Experiment wurde gerade publiziert1. Aber Ihr wollt ja sicher das Ergebnis wissen?

Die Schmerzintensität (s.u.) und die Anzahl der Versuche, die als schmerzhaft angegeben wurden, waren bei einer Bewegung auf das re. Ziel, die in der ersten Phase mit Schmerz assoziiert wurde (CS+), signifikant höher bzw. häufiger.

Was heißt das jetzt:

Da der nozizeptive Input in der zweiten Phase des Experiments identisch war, können die Unterschiede nur durch eine klassische Konditionierung des Schmerzes erklärt werden. 

Das Konzept der klassischen Konditionierung kennt ihr sicher noch aus eurer Schulzeit in Zusammenhang mit dem Pawlowschen Hund

Paart man einen neutralen Stimulus (klingeln einer Glocke) mit einem unkonditionierten Stimulus (Futter) in einer Konditionierungs-phase,

dann reicht danach das Klingeln der Glocke aus, um eine konditionierte Reaktion (Speichelfluss) zu generieren.

Ein Beispiel….21

Wenn Schmerz tatsächlich konditioniert werden kann, wie diese1 und andere Studien nahelegen2,3,6,7 und viele Therapeuten auch glauben4, dann hat das fundamentale Auswirkungen auf unser Verständnis von chronischem Schmerz und sicher auch auf dessen Management.

Chronischer Schmerz könnte dann assoziativ implizit erlernt werden: Spezifische Bewegungen, die in einer Akutphase mit einem nozizeptiven Input einhergehen und schmerzhaft sind, können dann später schmerzhaft bleiben, sogar generalisiert, d.h. auf andere Bewegungen „übertragen“ werden,9,10 auch wenn das nozizeptive Signal nicht mehr vorhanden oder deutlich reduziert ist.

Therapeutisch könnte sich auf dieser Grundlage erklären, warum Exposition unter Kontrolle oder symptommodifzierende Verfahren hier sinnvoll sein könnten. 11,12,13 

Gemeinsames Ziel wäre es hier, Bewegung und Schmerzerfahrung wieder zu entkoppeln (dissoziieren).

Phase 1: Der konditionierte Schulterschmerz21

Erfahrung: Nach einer ausreichenden Nozizeption und Aktivierung des Gehirns wird die Schmerz-Neuromatrix, andere Autoren sprechen besser von Bedrohungs-Salienz Matrix14,15oder dynamischem Schmerz-Konnektom16 in Gang gesetzt und Schmerz als Schutzreaktion produziert. Der Patient erfährt daher einen Schmerz am Bewegungsende der Flexion und diese Bewegung wird mit Schmerz assoziiert.

Physiologische Reaktion: Die „Flexions-Hirn-Karte“ („Neurotag“17wird aktiviert und kommuniziert mit assoziierten Hirn-Karten (sekundären  Neurotags). Die komplette Schleife schließt mit dem Endresultat „Schmerz“.

Phase 2: Der konditionierte Schulterschmerz21

Nach Konditionierung: Nach wiederholter Aktivierung der „Flexions-Hirnkarte“ (Neurotag) „versiegelt“ Dopamin die gemeinsamen neuralen Pfade18. Bedenke: Nerven, die zusammen „feuern“, verbinden sich und es wird jetzt weniger physische Flexion gebraucht, um die gesamte Karte samt Schmerzerfahrung zu aktivieren. Jetzt kann z.B. bereits eine Flexion bis 90° zu Schmerz führen.

Physiologische Reaktion: Nerven, die zusammen „feuern“, verbinden sich und werden durch Dopamin effizienter. Im Grunde wird das Nervensystem besser darin, Schmerz bei der Schulterflexion zu produzieren. (vgl19)

Phase 3: Der konditionierte Schulterschmerz21

Nach langer Konditionierung: In gleichem Maße, wie die Hirnkreisläufe (Neurotags) im Zusammenhang mit der Elevation des Arm immer „stabiler“ werden, nimmt der Stimulus, der zu Auslösung einer Schmerzerfahrung notwendig ist, ab. Im extremen Fall kann bereits der Gedanke an die Flexion zu Schmerzen führen.20

Physiologische Reaktion:

Patienten denken aus der Perspektive ihrer Gewebe dann, dass sie „schlechter“ werden. Tatsächlich werden sie besser, sie lernen….aber in die falsche Richtung: Sie lernen mehr Schmerz zu produzieren. Für die Therapie könnte sich ein Ansatz hieraus ableiten lassen: Neurale Kreisläufe, die getrennt aktiviert werden, trennen sich: Schmerzassoziierte Bewegung durch Modifikation schmerzärmer/-frei machen.11,12,13

Aber Achtung! Übungen müssen nicht schmerzfrei sein! Die Vorteile von Übungen in den Schmerz….

  • Höhere Trainingsdosis möglich
  • Liefert implizit die Botschaft, dass Schmerz ? Schaden (Alternativbewertung ehemals als „gefährlich“ eingestufter Bewegungen).25
  • Kurzzeitig signifikanter Vorteil für Schmerzreduktion gegenüber generellen schmerzfreien Übungen.26
  • Schmerzhafter Stimulus aktiviert das absteigende, nozizeptiv inhibierende System (CPM).24
  • Positive Modulation des sympathischen Nervensystems mit verringerter Immunantwort und geringerer Aktivierung des Entzündungssystems.24
  • Höhere Selbstwirksamkeit für Schmerz24
  • Schmerzfreies Bewegen oft gar nicht möglich

Dennoch können symptommodifizierende Übungen…

  • zu einer Widerlegung der Ergebniserwartung (Bewegung=Schmerz, „mein Schmerz ist nicht veränderbar“) führen.12,13
  • die Adhärenz und therapeutische Allianz in einer Anfangsphase aufbauen, z.B.  bei Patienten mit geringer Selbstwirksamkeit für Schmerz, hoher Furcht und negativen Schmerzüberzeugungen.

Fazit

Symptommodifikation oder Schmerz-Exposition:  Die Situation des Patienten vor uns und die gemeinsamen Ziele entscheiden!

Literaturangaben

  1. Alaiti RK, Zuccolo PF, Hunziker MHL, Caneiro JP, Vlaeyen JWS, Fernandes da Costa M. Pain can be conditioned to voluntary movements through associative learning: an experimental study in healthy participants. Pain. 2020 Oct;161(10):2321-2329. doi: 10.1097/j.pain.0000000000001919
  2. Traxler J, Madden VJ, Moseley GL, Vlaeyen JWS. Modulating pain thresholds through classical conditioning. PeerJ. 2019 Mar 8;7:e6486. doi: 10.7717/peerj.6486
  3. Harvie DS, Meulders A, Madden VJ, Hillier SL, Peto DK, Brinkworth R, Moseley GL. When touch predicts pain: predictive tactile cues modulate perceived intensity of painful stimulation independent of expectancy. Scand J Pain. 2016 Apr;11:11-18. doi: 10.1016/j.sjpain.2015.09.007. Epub 2015 Dec 1. PMID: 28850448.
  4. Madden VJ, Moseley GL. Do clinicians think that pain can be a classically conditioned response to a non-noxious stimulus? Man Ther. 2016 Apr;22:165-73. doi: 10.1016/j.math.2015.12.003
  5. Madden VJ, Bellan V, Russek LN, Camfferman D, Vlaeyen JWS, Moseley GL. Pain by Association? Experimental Modulation of Human Pain Thresholds Using Classical Conditioning. J Pain. 2016 Oct;17(10):1105-1115. doi: 10.1016/j.jpain.2016.06.012
  6. Bajcar EA, Adamczyk WM, Wiercioch-Kuzianik K, B?bel P. Nocebo hyperalgesia can be induced by classical conditioning without involvement of expectancy. PLoS One. 2020 May 7;15(5):e0232108. doi: 10.1371/journal.pone.0232108. PMID: 32379766; PMCID: PMC7205230.
  7.  Zhang L, Lu X, Bi Y, Hu L. Pavlov’s Pain: the Effect of Classical Conditioning on Pain Perception and its Clinical Implications. Curr Pain Headache Rep. 2019 Mar 5;23(3):19. doi: 10.1007/s11916-019-0766-0. PMID: 30835004.
  8. Moseley GL, Vlaeyen JW. Beyond nociception: the imprecision hypothesis of chronic pain. Pain. 2015 Jan;156(1):35-8. doi: 10.1016/j.pain.0000000000000014. PMID: 25599298.
  9. Harvie DS, Weermeijer JD, Olthof NA, Meulders A. Learning to predict pain: differences in people with persistent neck pain and pain-free controls. PeerJ. 2020 Jun 23;8:e9345. doi: 10.7717/peerj.9345
  10. Torres Caneiro, J. P. (2018). An Investigation of People with Persistent Low Back Pain and High Pain-Related Fear (Doctoral dissertation, Curtin University).
  11. Lehman GJ. The Role and Value of Symptom-Modification Approaches in Musculoskeletal Practice. J Orthop Sports Phys Ther. 2018 Jun;48(6):430-435. doi: 10.2519/jospt.2018.0608
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  14. Garcia-Larrea L, Peyron R. Pain matrices and neuropathic pain matrices: a review. Pain. 2013 Dec;154 Suppl 1:S29-43. doi: 10.1016/j.pain.2013.09.001. Epub 2013 Sep 8. PMID: 24021862.
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  18. Tabor A, Thacker MA, Moseley GL, Körding KP. Pain: A Statistical Account. PLoS Comput Biol. 2017 Jan 12;13(1):e1005142. doi: 10.1371/journal.pcbi.1005142
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