Darmmikroben, Mikroglia und Schmerz

Der Übergang von akuten zu chronischen Schmerzen wird durch Adaptionen entlang der gesamten neuralen Achse bestimmt, darunter auch Mikroglia und Immunzellen des Zentralnervensystems. (Beggs et al. 2012,  Coull et al. 2005, Inoue & Tsuda 2009, Sorge et al. 2015, Svensson et al. 2003, Tozaki-Saitoh et al. 2008)

Ergebnisse deuten darauf hin, dass neben verletzten oder degenerierenden Afferenzen (ZNS), das Darmmikrobiom (=Darmflora) zu den proinflammatorischen Prozessen beitragen könnte, welcher chronische Schmerzen verursacht. (Coull et al. 2005, Guan et al. 2015)

Patienten mit unterschiedlichen Schmerzzuständen (viszerale Schmerzen, chronische Beckenschmerzen, Fibromyalgie und arthrosebedingte-Knieschmerzen), zeigen alle Veränderungen in der Mikroben Vielfalt und Menge im Vergleich zu gesunden Personen. (Boer et al. 2019, Braundmeier-Fleming et al. 2016, Minerbi et al. 2019, Nagel et al. 2016, Nickel et al. 2016, Rajili?- Stojanovi? et al. 2011, Shoskes et al. 2016)

Die Wiederherstellung des Darmmikrobioms nach einer Dysbiose (Ungleichgewicht der Darmflora) verbessert die Schmerzreaktionen in verschiedenen Schmerzmodellen im Tierversuch, darunter viszerale, entzündliche und neuropathische Schmerzen. (Luczynski et al. 2017, O’Mahony et al. 2014, Verdu et al. 2006, Amaral et al. 2008, Ramakrishna et al. 2019, Shen et al. 2017)

Die Beziehung zwischen Schmerz, Mikroglia und dem Darmmikrobiom wurde nicht direkt getestet, scheint jedoch eine plausible Verbindung zwischen Darmdysbiose und Pathogenese verschiedener neurologischer Erkrankungen (Multiple Sklerose, Parkinson) und Entzündungszustände, einschließlich Depressionen, zu haben. (Bayer et al. 1999, Jiang et al. 2008, Jiang et al 2015, Torres-Platas et al. 2014, Berer et al. 2011, Jack et al. 2005, Mestre et al. 2019, Seifert et al. 2018, Keshavarzian et al. 2015, Sampson et al. 2016, Scheperjans et al. 2015, Sun et al. 2018)

Mikroglia und Darmmikroben

Die Reifung und Funktion der Mikroglia wird von Darmmikroben geprägt.

Das Darmmikrobiom reguliert das Immunsystem, insbesondere die Entwicklung und Reifung der Mikroglia.

Im Erwachsenenalter zeigen Mikroglia von keimfreien und antibiotisch behandelten Mäusen, geschlechtsspezifische Störungen, in Genen, die mit der Immunantwort zusammenhängen. (Thion et al. 2018, Erny et al. 2015, Matcovitch-Natan et al. 2016)

Mikrobielle Metaboliten im Darm, wie kurzkettige Fettsäuren, sind ebenfalls an der Regulierung, Funktion und Reifung der Mikroglia beteiligt. So zeigen Mäuse, denen der Rezeptor für freie Fettsäuren (FFAR2) fehlt, die gleichen Veränderungen der Mikroglia Aktivität, wie sie unter keimfreien Bedingungen beobachtet werden. Die orale Verabreichung von kurzkettigen Fettsäuren stellt die Morphologie der Mikrogliazellen in keimfreien Tieren wieder her. (Erny et al. 2015)

Einfluss von Mikroglia und Darmmikroben auf chronische Schmerzen?

Die Rolle der Mikroglia bei der Entstehung und Übertragung von chronischen Schmerzen ist inzwischen relativ gut bekannt.

In Tiermodellen für akute, entzündliche und neuropathische Schmerzen wird eine erhöhte Reaktivität und Proliferation der Mikroglia beobachtet. (Barcelon et al. 2019, Beggs et al, 2012, Coyle 1998, Keller et al. 2007, Sweitzer et al. 1999, Tanga et al. 2004, Taylor et al. 2015, Zhang et al. 2005, Zhong et al. 2010)

Aktivierte Mikroglia starten eine Vielzahl von Abwehrmechanismen (Phagozytose, Antigenverarbeitung, Zytokin Freisetzung). (Hanisch 2002, Walter & Neumann 2009)

Die Produktion von proinflammatorischen Mediatoren, wie Tumor-Nekrose-Faktor (TNF-?) und Interleukin (IL-1?), tragen zur Aktivierung und Sensibilisierung von Nervenfasern im ZNS bei, was zu einer verstärkten Schmerzübertragung führt. (McMahon et al. 2005, Watkins et al. 2003)

Pharmakologische Behandlungen, die die Aktivierung oder Proliferation von Mikroglia hemmen, dämpfen zusätzlich neuropathische, entzündliche und postoperative Schmerzen und bestärken die Rolle von Mikroglia im Schmerzprozessen. (Hains & Waxman 2006, Hua et al. 2005, Raghavendra et al. 2003, Gu et al. 2016)

Es wurde gezeigt, dass das Darmmikrobiom der ausschlaggebende Faktor der Schmerzempfindlichkeit in einem Modell der Chemotherapie-induzierten peripheren Neuropathie ist und die Schmerzempfindlichkeit signifikant mit dem Grad der Mikroglia-Proliferation im Rückenmark zusammenhängt (Tierversuch). (Ramakrishna et al. 2019)

Chronische Schmerzen, die bei CRPS auftreten, sind mit erhöhten Konzentrationen aktivierter Mikroglia im Rückenmark und Gehirn und einer reduzierten mikrobiellen Vielfalt im Darm, assoziiert. (Del Valle et al. 2009, Jeon et al. 2017, Reichenberger et al. 2013)

N. Vagus Signale

Der Vagus Nerv (ZNS bis in die Schleimhaut des Darms) hat die Funktion als primärer Kommunikationsweg zwischen dem Darmmikrobiom und dem Gehirn. (Forsythe et al. 2014, Patterson et al. 2002)

Bakterielle Liganden (Stoffe die an spezifische Rezeptoren binden), einschließlich Toxine und Zellwandkomponenten, können Nozizeptoren direkt aktivieren, um Schmerzen zu erzeugen. (Chiu et al. 2013, Meseguer et al. 2014)

Es ist denkbar, dass bestimmte Bakterienarten (Staphylococcus aureus, Campylobacter jejuni ) im Darm direkt auf vagale Afferenzen wirken und zur Schmerzpathogenese beitragen können. (Blake et al. 2018, Kupari et al. 2019, Goehler et al. 2005)

Die Kommunikation zwischen Bakterien im Darm und Vagus Afferenzen sind an der Modulation der zentralen Entzündung beteiligt. Vagusnerv-Afferenzen exprimieren Zytokin-Rezeptoren, die es dem Vagus ermöglichen, Veränderungen im Entzündungszustand des Darms zu erkennen und diese Signale an das ZNS weiterzuleiten. (Ek et al. 1998, Goehler et al. 1999)

Durchlässigkeit des Darm (“Leaky Gut”)

Eine wichtige Funktion des Darmmikrobioms ist die Entwicklung und erhalt der Darmbarriere, die u.a. vor Krankheitserreger schützt. (Ohland & MacNaughton 2010)

Die Darmbarriere besteht aus einer schützenden Schleimhautschicht und einer Schicht aus Darmepithelzellen, die durch Tight Junctions miteinander verbunden sind. Normalerweise ist die Wanderung von Mikroben und mikrobiellen Komponenten durch diese Barriere begrenzt.

Durch eine intestinale Dysbiose kann es jedoch zu einer erhöhten Permeabilität der Epithelbarriere kommen (Tierstudie). (Rocha et al. 2014)

Auch im Darm beheimatete Mikroben beeinflussen die Permeabilität der Epithelbarriere zusätzlich indirekt durch die Kommunikation mit den Immunzellen. (Arrieta et al. 2006)

Kurzkettige Fettsäuren (Butyrat und Acetat) können allerdings die Integrität der intestinalen Barriere bewahren und wiederherstellen. (Kelly et al. 2015)

Eine gestörte Barrierefunktion und eine erhöhte Permeabilität des Epithels sind mit Veränderungen in der Zusammensetzung der Darmflora verbunden. Der Zusammenbruch der Darmbarriere infolge bakterieller Dysbiose ermöglicht das Austreten neuroaktiver Verbindungen und Immunprodukte über die Darmwand in den Systemkreislauf und beeinflusst damit die periphere Entzündung. (Bansal et al. 2010, Fukuda et al. 2011, Crumeyrolle-Arias et al. 2014, Kelly et al. 2015)

Erhöhungen der intestinalen Permeabilität sind mit erhöhten Plasmaspiegeln der proinflammatorischen Zytokine TNF-? und IL-6 assoziiert. (Cariello et al. 2010)

Das Auslösen einer peripheren Immunantwort kann zu einer zentralen Entzündung, einschließlich der Aktivierung der Mikroglia, beitragen. Dies könnte direkt geschehen, da Immunzellen und bestimmte Zytokine (TNF-?, IL-1) im Kreislauf direkt die Blut-Hirn-Schranke (BHS) überwinden und Mikroglia aktivieren können. Diese periphere/zentrale Immunkommunikation könnte durch einen Zusammenbruch der BHS weiter erleichtert werden. Tatsächlich kann eine verstärkte periphere Entzündung mit einer Störung der BHS und einer zentralen Entzündung verbunden sein. (Banks & Kastin 1991, Gutierrez et al. 1993, Varatharaj & Galea 2017, Zhu et al. 2018)

Eine erhöhte Permeabilität der BHS ermöglicht es kleinen Bakterien und Metaboliten, in das ZNS einzudringen und die Aktivierung von Mikroglia auszulösen. (Qin et al. 2007)

Der Verlust der BHS-Integrität nach Manipulation des Darmmikrobioms trägt wahrscheinlich zu einer zentralen Entzündung bei (Tierversuch).

Über eine gestörte Integrität der Darmschranke wurde bei verschiedenen chronischen Schmerzzuständen berichtet, darunter Fibromyalgie, CRPS und Reizdarmsyndrom. (Goebel et al. 2008, Piche et al. 2009)

Der Grad der intestinalen Permeabilität ist mit der Schmerzintensität und dem Plasmaspiegel verschiedener proinflammatorischer Zytokine (IL-2, IL-6 und TNF-?) verbunden. (Piche et al. 2009, Ernberg et al. 2018)

Diese Studien unterstützen die Hypothese, dass ein „undichter Darm“ zu einer systemischen und zentralen Entzündung führt und zur Pathophysiologie chronischer Schmerzen beiträgt.

Es ist unklar, ob der Zusammenbruch der Darmbarriere in Krankheitszuständen, die von chronischen Schmerzen begleitet werden, eine Ursache oder eine Folge der Schmerzreaktion ist.

Wahrscheinlich handelt es sich um einen Mechanismus in beide Richtungen bei dem eine Darmdysbiose zu einem „undichten Darm“ führt und chronische Schmerzen verursacht. Dadurch wird die Homöostase des Darms und die Bakterien weiter gestört.

Signalisierungsmechanismen – TLR4

Die Signalisierung über Toll-like-Rezeptoren (TLRs), Mustererkennungsrezeptoren, spielt eine Schlüsselrolle für das angeborene Immunsystem und die sensorische Verarbeitung. (Lacagnina et al. 2018, Nicotra et al. 2012)

Insbesondere die Aktivierung von TLR4 auf spinaler Mikroglia Ebene, stimuliert eine entzündlichen Prozess, der zur Produktion von proinflammatorischen Zytokinen führt und zu Schmerzüberempfindlichkeit beiträgt. (Saito et al. 2010, Shimazu et al. 1999, Tanga et al. 2005)

Von Bakterien abgeleitete Lipopolysaccharide (LPS) können über TLR-Bindung auch direkt Neurone aktivieren und sensibilisieren. (Diogenes et al. 2011, Qi et al. 2011)

Entzündliche Darmerkrankungen sind mit einer erhöhten Expression von TLR4 beim Menschen verbunden, was die Entzündung im Zusammenhang mit chronischen Schmerzen weiter verstärken könnte. (Szebeni et al. 2008)

Die Aktivierung von TLR4 auf Immunzellen kann ebenfalls in die andere Richtung ein Signal an den Darm aussenden, um die Darmdysbiose und die Schmerzverarbeitung zu beeinflussen.

Zytokine

Entzündliche Zytokine im zentralen und peripheren Nervensystem sind entscheidend für den Beginn und Erhalt verschiedener pathologischer Schmerzzustände. (Cunha et al. 1992, Deleo et al. 1997, De Leo et al. 1996, Perkins & Kelly 1994, Ramer et al. 1998)

Es gibt Hinweise darauf, dass Darmbakterien das Niveau der Zytokine und die Reaktivität der Mikroglia beeinflussen können.

Eine erhöhte Expression proinflammatorischer Zytokine (IL-6, IL-? und TNF-? im Rückenmark) in Keimfreiheit (Tierversuch) korrelierte mit einer erhöhten Mikroglia Aktivierung, viszeralen Überempfindlichkeit und TLR-Hochregulierung. (Luczynski & Kollegen 2017)

Im Gegensatz dazu zeigt die Untersuchung von Erny et al. (2015), dass keimfreie Bedingungen zu einer verminderten mikroglialen Reaktivität und Zytokin Freisetzung führen.

Erklärung für diese Unterschiedlichen Ergebnisse könnten die unterschiedliche Mäusearten und -geschlechter sein.

In jedem Fall weisen diese Studien eindeutig auf eine Rolle des Darmmikrobioms bei der Zytokin-vermittelten Signalübertragung hin, obwohl die Richtung dieses Einflusses unklar ist.

Antiinflammatorische Zytokine sind immunregulatorische Stoffe, die die proinflammatorische Reaktion dämpfen.

Eine erhöhte IL-10-Produktion wurde bei Reizdarmsyndrom festgestellt, die nach einer Behandlung (oralen Probiotika) Verbesserungen bei Bauchschmerzen aufwiesen. (O’Mahony et al. 2005)

Da das Darmmikrobiom eine wesentliche Rolle bei der Regulierung der Immunantwort über Zytokinsignale spielt, könnten Darmmikroben in zytokin-vermittelte Schmerzprozesse durch Interaktionen mit Mikroglia modulierend wirken.

BDNF

Der vom Gehirn stammende neurotrophe Faktor (BDNF) ist ein Neurotrophin, das am neuronalen Überleben, an der Differenzierung, Neurogenese und Regulierung emotionaler und kognitiver Verhaltensweisen beteiligt ist (geschlechtsunterschiedlich).

BDNF spielt eine wichtige Rolle als Signalmolekül bei der Übertragung neuropathischer Schmerzen. (Coull et al. 2005, Keller et al. 2007)

Eine Dysregulation der Zusammensetzung des Darmmikrobioms könnte die BDNF-Freisetzung im Rückenmark beeinflussen und zum Schmerz beitragen. Die Behandlung mit dem Probiotika (Lactobacillus plantarum) vermindert die viszeralen Schmerzreaktionen bei kolorektaler Dehnung und die spinale BDNF-Expression der viszeralen Überempfindlichkeit (Tierversuch). (Liu et al.2019)

Verschiedene Studien, die Manipulation der Mikrobiom-Zusammensetzung anwenden legen nahe, dass die BDNF-Expression im Gehirn, einschließlich der Amygdala und des Hippocampus, sehr empfindlich auf Störungen des Darmmikrobioms reagiert. (Arentsen et al. 2015, Bercik et al. 2011, Desbonnet et al. 2015, Gareau et al. 2011, Neufeld et al. 2011, Sudo et al. 2004)

Beeinträchtigungen der kognitiven Funktionen und der Stimmung durch die intestinale Dysbiose können ebenfalls mit Veränderungen der BDNF-Expression verbunden sein. (Bercik et al. 2011, Desbonnet et al. 2015, Gareau et al. 2011, Yirmiya et al., 2015)

Da sowohl chronische Schmerzen, als auch gastrointestinale Symptome, häufig mit Affektstörungen, einschließlich Depression und Angstzuständen, einhergehen können, ist es möglich, dass das Zusammenspiel zwischen Mikrobiom, Mikroglia und BDNF über Stimmungsstörungen hinaus auch auf Schmerzzustände ausgedehnt wird. (Lerman et al. 2015, Mussell et al. 2008)

Mechanismen, durch die das Darmmikrobiom die mikrogliale Reaktivität beeinflussen könnte, um chronische Schmerzen zu verursachen.

Es gibt zahlreiche Mechanismen durch die das Darmbakterium die mikrogliale Reaktivität beeinflussen könnte, um den Beginn und Erhalt chronischer Schmerzen zu steuern.

Bidirektionale Signale zwischen den Darmbakterien und dem Gehirn über den Nervus Vagus spielen eine Rolle bei der Modulation der Mikroglia Proliferation und Reaktivität. Eine gestörte Funktion der Darmbarriere ermöglicht das Austreten bakterieller Produkte in die systemische Zirkulation, was eine periphere Immunantwort und eine Aktivierung der Mikroglia bewirkt.

Zytokine und Immunzellen können Mikroglia entweder durch einen direkten Durchtritt durch die intakte Blut-Hirn-Schranke oder durch Regionen mit erhöhter Permeabilität aktivieren. Über diese Wege werden die Mikroglia aktiviert und trägt zur Übertragung von chronischen Schmerzen bei.

LIMITATION!

Es ist wichtig zu erwähnen, dass die untersuchten Mechanismen spekulativ sind, da es nur wenige Studien gibt, die die Schmerzreaktionen schlüssig mit Mikrobiom Veränderungen im Darm und der zentralen Entzündung in Verbindung bringen. Auch wenn die Auswirkungen aus den Tierversuchen plausibel scheinen und leicht auf den Menschen zu übertragbar zu sein scheinen, gilt es besonders Vorsicht mit einem Übertragung der Ergebnisse auf den Menschen zu sein.

Literaturangaben

Primärquelle: Dworsky-Fried et al. (2020) Microbes, microglia, and pain.