Warum Übungen in den Schmerz Sinn machen können! Teil 1+2 Physiologie und Praxis 2020
Warum Übungen in den Schmerz Sinn machen können?! Teil 1: Physiologie
Muskuloskelettale Schmerzen & Training – Ein neues Trainingsparadigma
Traditionell basieren Trainingsprogramme bei muskuloskelettalen Beschwerden auf den Grundprinzipien der Trainingslehre für Kraft und Koordination mit einem gewebefokussierten Ansatz. Die entsprechenden Zielübungen werden häufig schmerzfrei durchgeführt.
Ein schmerzwissenschaftlich fundiertes, neues Trainingsparadigma sieht dagegen Vorteile darin, Übungsformen mit Schmerz durchführen zu lassen. Die Erfahrung zu machen, sich trotz und mit Schmerz zu bewegen und zu belasten, kann vorteilhaft sein. (Smith et al. 2017, 2019)
Dieses neue Paradigma beruht auf 3 wesentlichen Mechanismen (Smith et al. 2019)
- Affektive Mechanismen eines Trainings in den Schmerz
- Zentrale, neurobiologische Mechanismen eines Trainings in den Schmerz: Übungsinduzierte Hypoalgesie
- Vegetative und immunologische Mechanismen eines Trainings in den Schmerz
1. Affektive Aspekte des Schmerzes
Selbstwirksamkeit und Depression sind die stärksten prognostischen Faktoren (unabhängig von der Intervention) für einen Behandlungserfolg. Schmerzlinderung, Katastrophisierung und Aktivität waren die stärksten Mediatoren (Faktoren, die erklären, wie Behandlungen funktionieren, Miles et al. 2011). Aufmerksamkeit auf Schmerz verstärkt Schmerz, womit er eine größere emotionale Bedeutung erhält (Arntz et al. 1993, 1994, Rode et al. 2001).
Die Mechanismen, über die Angst im Zusammenhang mit Schmerz die zentrale Sensibilisierung beeinflusst, sind:
- Verstärkung der nozizeptiven Übertragung über den spinalen „Gate-Mechanismus“ („Kontrollschranken-Mechanismus“)
- Modulation der absteigenden Signalwege
- Zeitliche Summation, zunehmende Aktivierung der Neuronen des Rückenmarks erhöht Glutamin-Sensitivität = stärkere Schmerzreaktion
Kommunikation von Gehirnarealen
Die Amygdala (Angstzentrum) spielt eine Schlüsselrolle bei der Reaktion auf Angst, insbesondere für unsere Antwort auf schmerzbezogene Erinnerungen und Furcht | Medialer präfrontaler Kortex (mPFC) Funktion eines Langzeit-Extinktionsspeichers mit der Möglichkeit, die Amygdala zu blockieren und zu unterdrücken. | Der cinguläre Kortex ist ebenfalls an der Reaktion beteiligt. Er kommuniziert mit beiden Hirnareale über das absteigende, nozizeptiv hemmende System. |
- Mögliche Mechanismen:
- Reduktion der Bedrohungswahrnehmung
- Verbesserung der Selbstwirksamkeit
- Bildung neuer hemmende Assoziationen (Konkurrenz zu den bestehenden Assoziationen)
Chronische Schmerzzuständen bedeuten langwierige maladaptive Schmerz-Erinnerungen, die Gewebespannung und -belastung mit Gefahr und Bedrohung assoziieren.
Ein Hauptpunkt für den Nutzen von schmerzhaften Übungen ist ihr Potenzial im Sinne des assoziativen Lernens: Schmerzhafte Übungen helfen dabei, eine schmerzassoziierte Furcht zu rekonzeptualisieren, indem Patienten ihre Überzeugungen bzgl. Schmerz und Gewebeschaden zu hinterfragen beginnen. Schmerzhafte Übungen durchzuführen, bietet die Gelegenheit, ehemals als gefährlich eingeschätzte Bewegungen alternativ zu bewerten.
2. Zentrale Schmerzmechanismen: Bewegungsinduzierte Hypoalgesie
Freisetzung von ?-Endorphinen aus der Hypophyse und dem Hypothalamus durch Bewegung. Aktivierung von ?-Opioid-Rezeptoren peripher und zentral, wodurch das endogene Opioid-System ausgelöst wird.
Der Hypothalamus projiziert auf das periaquäduktale Grau (PAG), was zu weiterer endogener analgetischer Wirkungen führt.
Training steigert Herzfrequenz und Blutdruck -> Das führt zur Stimulation von arteriellen Barorezeptoren, welche das körpereigene Opioid- System aktivieren.
Schmerzhafte Übungen erfolgen in der Regel mit höheren Bean-spruchungen und Umfängen, was einen stärkeren schmerzreduzierenden Effekt gegenüber nicht schmerzhaften Übungen erklären kann (Smith et al. 2017). Übungen in den Schmerz können zudem einen schmerzhaften, konditionierenden Stimulus (CPM) liefern, der notwendig ist, um das absteigende, nozizeptiv inhibierende System zu aktivieren, das bei Patienten infolge schmerzbezogener Ängste geringer aktivierbar ist.
3. Immunfunktion, Schmerz und schmerzbedingte Angst
Die Amygdala projiziert auf Bereiche des Gehirns, die eine Schlüsselrolle in der sympathischen Reaktion auf Bedrohung spielen (Locus coeruleus und Pons), wobei die Immunantwort direkt durch die Reaktion des sympathischen Nervensystems getriggert wird. Reduziert sich das Bedrohungspotenzial von Schmerz durch die Konfrontation des Patienten mit Übungen in den Schmerz und folgt daraus eine Abnahme der schmerzassoziierten Furcht, so reduziert sich auch die Aktivierung der Amygdala und nachfolgender Signalwege.
Das Ergebnis von Übungen in den Schmerz könnte eine positive Modulation des sympathischen Nervensystems sein, die über den normalen Effekt körperlicher Aktivität hinausgeht und eine stärkere Verringerung der physiologischen Immunantwort und des Entzündungssystems zur Folge haben könnte.
Im Überblick: Die Rolle von Übungen in den Schmerz bei der Behandlung von chronischen Muskel-Skelett-Schmerzen
Wie man schmerzbezogene Angst durch Übungen in den Schmerz umstrukturieren kann – Teil 2: Praktische Lösungswege!
Verstehe, was der Patient denkt!
„Warum denken Sie, haben Sie Schmerzen?“
Wie versteht der Patient sein Problem? Was steht der Genesung bzw. dem Training im Weg?
Zentral steht:
Individuelle Schmerz-Repräsentation und nachfolgendes Verhalten2 des Patienten.
- Was bedeutet dieser Schmerz?
- Was hat diesen Schmerz verursacht ?
- Welche Konsequenzen wird der Schmerz haben?
- Wie gut ist der Schmerz kontrollierbar?
- Wie lange wird der Schmerz andauern?
- Wie verständlich ist der Schmerz?
- Was löst der Schmerz emotional aus?
Beeinflusse die ungünstigen Krankheitsüberzeugungen
des Patienten durch patientenzentrierte Edukation!
Stelle nicht hilfreiche Überzeugungen in Frage!
„Denken Sie, dass es sicher für Sie ist, zu trainieren?“
„Warum nicht?“
Sprich mit dem Patienten darüber!
Empfehle Übungen oder Bewegungen, die zuvor vermieden
wurden/oder schmerzhaft waren. Neue hemmende Assoziationen
können mit Übungen in den Schmerz entstehen!1,4,8, 12,13,14
Fördere die Selbstwirksamkeit!
„Sind Sie zuversichtlich, diese Übung tatsächlich zu machen?“
„Was denken Sie, wird passieren?“
Diskutiere das mit dem Patienten!
Die hierarchische Konstruktion schmerzhafter Übungen von leicht bis
schwer kann die Selbstwirksamkeit verbessern.1
Widerlege seine Prädiktionen durch “Verhaltensexperimente“ ! (z.B. „wenn ich mit Schmerzen trainiere, werde ich dafür „bezahlen“.)
Übertreffe die Erwartungen des Patienten: Zeige ihm, dass nicht das passiert, was er denkt!12,13,14
Gebe Sicherheitshinweise!
“Ihr Knie ist schmerzhaft, weil es dekonditioniert, außer Form und
nicht an Bewegung gewöhnt ist.“11
„Schmerzen sind keine verlässlichen Zeichen von Gewebeschäden. Es
kann wehtun, aber trotzdem ist die Bewegung sicher.“7
„Wir müssen Ihr Knie trainieren, damit es stark wird und Sie damit
machen können, was sie machen müssen.“
Berate über ein geeignetes Schmerzniveau!9
„Wenn Sie mit dem Schmerzlevel klarkommen, dann fahren Sie mit der Übung fort!
„Wenn der Schmerz länger als 24 Stunden nach der Übung anhält oder der Schmerz „hochkocht“, dann verringern Sie die Trainingsmenge bis Sie diese Verschlechterung bewältigt haben“
Berate über Übungsänderung!1
„Es ist wichtig, die Übungen abhängig von Ihren Symptomen anzupassen. Das kann bedeuten, dass Sie die Anzahl der Wiederholungen, die Sie machen oder das Gewicht, das Sie verwenden, erhöhen, wenn es einfacher wird; oder reduzieren, wenn es zu schmerzhaft ist.“
„Versuchen Sie nicht, die Übungen ganz zu vermeiden, da eine komplette Pause das Problem nicht lösen wird. Reduzieren Sie stattdessen die Übungen bzw. die Belastung auf ein akzeptables Niveau.“
Literaturangaben
- Smith, B. E., Hendrick, P., Bateman, M., Holden, S., Littlewood, C., Smith, T. O., & Logan, P. (2019). Musculoskeletal pain and exercise—challenging existing paradigms and introducing new. British journal of sports medicine, 53(14), 907-912.
- De Raaij, E. J., Ostelo, R. W., Maissan, F., Mollema, J., & Wittink, H. (2018). The Association of Illness Perception and Prognosis for pain and physical function in patients with noncancer musculoskeletal pain: a systematic literature review. journal of orthopaedic & sports physical therapy, 48(10), 789-800.
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