Neurobiologie der Ernährung und die Sensibilität des ZNS

Ernährung und Schmerz

Ernährungsinterventionen, insbesondere ein verändertes Ernährungsmuster und eine veränderte Nährstoffzufuhr können durch eine Auswirkung auf die Sensibilität des ZNS zu einer signifikanten Schmerzlinderung bei Patienten mit chronischen Schmerzen führen, Die Sensibilität des ZNS ist bei vielen chronischen Schmerzpatienten, erhöht. (Brain et al. 2019, Holton et al. 2009, Woolf 2011)

Ungünstige Ernährung (ballaststoffarme, energiereiche Ernährung) ist mit oxidativem Stress, Zellnekrosen und Gewebeschäden im gesamten Körper verbunden, von denen jeder potenziell endogene Toll-like-Rezeptoren (TLRs) aktivieren kann (Nicotra et al. 2012)

Bei der Aktivierung lösen TLRs proinflammatorische zentrale Signale im Immunsystem aus, z.B., die Aktivierung von Gliazellen, die wiederum zu einer Neuroinflammation führen können. (Nicotra et al. 2012, Nijs et al. 2017)

Exkurs: Toll-like-Rezeptoren, Synapsen und Schmerzen

Die „neue Welt der Synapsen“ und ihre Bedeutung für die Therapie….

Die meisten von uns haben (vermutlich) folgende Vorstellung von einer Synapse:

 Präsynaptisches Neuron trifft über einen synaptischen Spalt auf postsynaptisches Neuron.

 Was in dieser Betrachtung allerdings fehlt sind Gliazellen, also nichtneuronale Zellen, deren Anzahl die der Nervenzellen im ZNS um den Faktor 10 übertsteigt und die man ursprünglich als eine Art „Kitt“ im Nervensystem betrachtet hat. Mittlerweise ist gesichert, dass Synapsen ohne diese IMMUNZELLEN quasi „Schrott“ sind, weil diese Zellen – darunter Microglia, Astrozyten und Oligodendrozyten – für die Homöostase der Synapsen essentiell sind und zusammen mit den Nervenzellen als komplexes „Neuro-Immunsystem“ interagieren (Folie1).

 Auf der Oberfläche dieser Gliazellen befinden sich Rezeptoren, z.B. ein Rezeptortyp namens „„Toll-like-Rezeptor 4“ (TLR-4), der einer Überwachungskamera ähnelt (Folie 2). Er reagiert auf pathologische Prozesse (Schäden = „danger associated molecular pattern“ (DAMPs), Fremdartigkeit = „xenobiotic-associated molecular patterns“ (XAMPs), pathogene Substanzen = „pathogen associated

molecules pattern“ (PAMPs) und – im Moment zugegeben noch etwas spekulativ – Kognitionen = „cognition associated molecular pattern (CAMPs).

 Dieser TLR-4 hat darüber hinaus eine erstaunliche „Gedächtnisfunktion“. Er beginnt – einmal aktiviert – auf ähnliche Reizkonstellation zu reagieren.

 Bei einer Aktivierung der Gliazellen reagieren sie mit einer verstärkten Freisetzung von proinflammatorischen Stoffen in der Synapse, wodurch ihre Effizienz, z.B. für die nozizeptive Übertragung zunimmt (drei- bzw. vierteilige Synapse). Das Immunsystem wird also synchron zum Nervensystem sensibilisiert, der Schwellenwert für eine inflammatorische und neurale Antwort wird damit reduziert (Folie 3).

Und jetzt kommt das fast noch erstaunlichere: Das passiert nicht nur in der jeweiligen Synpase, sondern kann sich über weite Wege („volume transmission“) auf andere Synapsen im Nervensystem auswirken (Folie 4).

Was bedeutet das jetzt für die Therapie?

Kognitive, verhaltensorientierte Faktoren können mit anderen biologischen Variablen (z.B. systemischen Entzündungsprozesses durch ungünstige Lebensstilfaktoren) das Neuro-Immunsystem sensibilisieren und damit Symptome, wie Schmerz, Schwellung und andere Faktoren (z.B. die mentale Gesundheit) wesentlich beeinflussen!

“Neuro-Immunsystem”

Glia sind „Sensoren für pathologische Prozesse im ZNS“ (Kreutzberg 1996)

..eine Art „Gewebe-Alarm-Anlage“
(„tissue alarm system“, Graeber & Christie 2012)

Neurale Immunzellen „wissen, wer wir sind“ und „wann, wir nicht wir sind“:

Reagieren nicht nur auf physische Gefahren, sondern auch auf kognitiv-emotionale Bedrohungen (Ängste, gedrückte Stimmung, Furcht) und sind an der Entstehung chronischer Schmerzen beteiligt (Paniga & Gosselin 2011)

„Die drei-teilige Synapse“

Nicotra et al 2012, „Experimental Neurology“

Ernährung und Schmerz

Eine nicht optimal verlaufende Glia-Aktivität verursacht auch eine Astrozyten-Aktivierung (ZNS), was zur Produktion proinflammatorischer Substanzen durch hypertrophe und aktivierte Astrozyten (Astrogliose) führt. (Raghavendra et al. 2004)

Eine erhöhte Glia-Aktivierung (Gehirn) wurde bei Patienten mit chronischen Schmerzen nachgewiesen (chronischen unspezifischen Rückenschmerzen und Fibromyalgie). Auch eine spinale Aktivierung wurde bei Patienten mit chronischen lumbalen Radikulopathie-Schmerzen gefunden. (Loggia et al. 2015, Albrecht et al. 2019, Albrecht et al. 2018)

Neben TLRs (TLR-4,TLR-2) ist ein weiterer wichtiger Auslöser der Mikroglia-Aktivierung der Fractalkin-Rezeptor (CX3R1), ein schneller und selektiver Auslöser der dorsalen Horn-Mikroglia des Rückenmarks. Fractalkin (Zytokin) hat eine wichtige Rolle bei der frühen Aktivierung von fettreichen ernährungsbedingten Entzündungen (Hypothalamus bedingt) im Tiermodell. (Morari et al. 2014, Verge et al. 2004)

Eine nicht optimal verlaufende Glia-Aktivität hat das Potenzial, die Sensibilisierung des ZNS durch mehrere Mechanismen zu beeinflussen. Die aktivierte Mikroglia wurde als Hauptquelle für die Freisetzung mehrerer neurotropher Faktoren identifiziert, wie beispielsweise des Wachstumsfaktor BDNF (brain derived neurotrophen Faktors), der für die Erhöhung der neuronalen Erregbarkeit verantwortlich ist, indem er eine Disinhibition bei Neuronen im dorsalen Horn des Rückenmarks verursacht. (Ferrini & De Koninck 2013)

Die anomale Glia-Aktivität geht auch mit einem erhöhten Tumornekrosefaktor (TNF) einher, welcher eine  Langzeit-Potenzierung induziert, die synaptische Effizienz steigert  und so zu einer Schmerzsensibilisierung führt.  Beides sind Schlüsselmechanismen, der ZNS-Sensibilisierung und der Bildung eines Schmerzgedächtnisses bei Chronikern. (Ji et al. 2003, Gao & Ji 2008, Delpech et al. 2015)

Die peripheren entzündungsfördernden Mechanismen einer schlechten Ernährung, durch den die Ernährung das ZNS beeinflussen kann, sind bekannt. (Schwingshackl & Hoffmann)

Tatsächlich können periphere proinflammatorische Zytokine die Blut-Hirn-Schranke passieren und in das ZNS eindringen. Umgekehrt deuten Studien darauf hin, dass eine Ernährung, die reich an Gemüse, Obst, gesunden Ölen und Ballaststoffen ist, entzündungshemmend wirkt. (Tick 2015)

Über die Zellen der Darmschleimhaut sind die primären “Darmsensoren”, dafür verantwortlich, Reaktionen auf das Vorhandensein der drei Makronährstofftypen auszulösen. (Dockray 2003)

Auf diese Weise informieren afferente Neuronen das Gehirn über die Nahrungsaufnahme, was wiederum zu einer mikroglialen Aktivierung führen kann. (Vaughn et al. 2017)

Ein anderer Weg impliziert, dass eine erhöhte periphere (lokale gastrointestinale oder systemische) Entzündung Vagusafferezen aktiviert (über Zytokinrezeptoren), was wiederum eine Neuroinflammation auslöst. Auch ernährungsbedingte Veränderungen in der Zusammensetzung des Darmmikrobioms können eine afferente Vagusaktivierung und eine geringgradige  Darmentzündung bedingen (Watkins & Maier 1999, de Lartigue et al. 2011, Vaughn et al. 2017)

Ebenfalls fördern Astrozyten unter adipösen durch eine Mikroglia Migration und Aktivierung eine Hypothalamus bedingte Entzündung (Kwon et al. 2017)

Eine kalorienarme Ernährung beeinflusst die Neuroinflammation, einschließlich der Aktivierung der Gliazellen, und verminderte damit die Sensibilisierung des ZNS und das Schmerzverhalten in Tierversuchen. Die gleiche Forschergruppe zeigt bei nicht fettleibigen Ratten und einer kalorienarmen Diät einen anti-nozizeptiven Effekt auf postoperative Schmerzen, die möglicherweise durch Entzündungshemmung vermittelt wird. (Liu et al. 2018, Liu et al. 2017)

Zusammengenommen ist es plausibel, dass eine ungesunde Ernährung, die hauptsächlich durch eine kalorienreiche Ernährung gekennzeichnet ist, teilweise für die gliale Aktivierung verantwortlich ist, wie sie bei Patienten mit chronischen Schmerzen beobachtet werden kann.

Eine Querschnittstudie zeigt eine Assoziation zwischen Markern der Neuroinflammation und der peripheren Glukosekonzentration bei einem Subtyp mit schweren chronischen Schmerzen infolge CRPS (komplexem regionalem Schmerzsyndrom). Eine weitere Querschnittsstudie ergab, das erhöhte Konzentrationen von Blutzucker und  geringem HDL-Cholesterin jeweils unabhängig voneinander mit einer höheren chronischen Schmerzintensität in Zusammenhang stehen. (Jung et al. 2019, Goodson et al. 2013, Mensink et al. 2003)

Tierstudien zeigen, dass hohe Glukosewerte die Sensibilisierung des ZNS erleichtern, indem sie die Expression und Aktivierung des B1 (Protein) –  eines Modulators, der Entzündungsreaktion im dorsalen Wurzelganglion-  erhöht. B1-Protein wirkt als Alarmsignal, das u.a. bei Nekrose freigesetzt wird. Metformin, kann somit potenziell neben dem Blutzucker auch Entzündungen und damit die Sensibilisierung des ZNS verbessern. (Bestall et al. 2018, Afshari et al. 2018)

Tatsächlich sind chronisch weitläufige Schmerzen, unabhängig von Diabetes, mit höherem Cortisol und Nüchternglukose assoziiert. (Stehlik et al. 2018)

Der Zusammenhang zwischen Glukose, Entzündungen und Schmerzen wird auch durch Studien hervorgehoben, die die mögliche Wirkung einer ketogenen Ernährung bei Patienten mit chronischen Schmerzen untersuchen. Der verringerte Kohlenhydratgehalt einer ketogenen Ernährung minimiert den Glukosestoffwechsel und erhöht die Ketolyse, welche in Tierversuchen (3-4 Wochen) zu peripheren entzündungshemmenden und hyperalgetischen Effekten führt. (Ruskin et al. 2009)

Wenn glykolytische Enzyme gehemmt werden, erhöhen sich die Schmerzgrenzen (zentral vermittelt). (Bodnar et al. 1979, Bodnar et al. 1981, Zhao et al. 1997)

Umgekehrt führt eine hohe Blutzuckerkonzentration zu einer Schmerz-überempfindlichkeit (oxidativer Stress und Aktivierung von Mikroglia). (Feldman 2003, Wang et al. 2014)

Dieser schmerzlindernde Effekt ist bei Menschen wahrscheinlich, aber Studien zur Bestätigung dieser Hypothese fehlen bisher. (Brain et al. 2019, Masino & Ruskin 2013)

Ein weiterer möglicher Weg, mit dem die Ernährung die Sensibilisierung des ZNS bei chronischen Schmerzen aufrechterhalten oder verstärken kann, ist die Fähigkeit der Darm-Mikrobiota (Darmflora), die Neurotransmission des ZNS zu regulieren.

Studienergebnisse deuten darauf hin, dass Therapien, die sich mit mikrobieller Dysbiose befassen, auch die Erregbarkeit primärer afferenter (nozizeptiver) Neuronen beeinflussen können, was möglicherweise die Sensibilisierung des ZNS über einen Bottom-up-Weg reduziert. (Brenchat et al. 2009, Sessenwein et al. 2017, McVey et al. 2013, O’Mahony et al. 2017)

Es wird vermutet, dass Probiotika das Gleichgewicht des Darmmikrobioms wiederherstellen und nützliche Funktionen in das Mikrobiom der Darmflora einbringen könnten, was zu einer verminderten Entzündung des Darms führen kann. (Hemarajata & Versalovic 2013)

Probiotika könnten eine direkte Wirkung durch bakterielle Metaboliten auf empfindliche Nervenendigungen in der Darmschleimhaut haben, oder über indirekte Wege, die systemische Immunaktivierung und die anschließende Sensibilisierung des zentralen neuronalen Systems positiv beeinflussen (Tierstudie). (Theodorou et al. 2014)

Bevor Probiotika als potenziell neue Behandlungsoption bei chronischen Schmerzen und ZNS-Sensibilisierung angesehen werden können, müssen Ergebnisse aus Tierversuchen auch beim Menschen reproduziert werden.

Fazit

Das Modell der ernährungsbedingten Neuroinflammation und der daraus resultierenden ZNS-Sensibilisierung liefert eine neue Grundlage für die Entwicklung von Behandlungen für Patienten mit chronischen Schmerzen.

Die möglichen Interventionen beziehen sich dabei auf eine spezifische Ernährungsumstellung (Diät) und/oder Pharmakologie.

Literaturangaben

Primärquelle: Nijs et al. (2019) Nutritional neurobiology and central nervous system sensitisation.