Jenseits des strukturellen Modells ein Prozessansatz für die Manuelle Therapie & Physiotherapie

Grundannahme in der MT & PT
Jeder Mensch besitzt von Natur aus gewisse Selbstheilungskräfte.
Diese Funktion regelt die Fähigkeit des Individuums seine Gesundheit und Funktionalität wieder herzustellen.

Die Wiedererlangung des ursprünglichen völligen Gesundheitszustandes („restitutio ad integrum“) kann durch die Entfernung bestimmter Hindernisse, welche die Selbstheilung hindern, optimiert werden (Mootz & Phillips, 1997; AACOM, 2015).

In der MT&PT gingen wir ursprünglich davon aus, dass Dysbalancen, Ungleichgewicht, fehlende Symmetrie, etc… strukturelle Hindernisse sind, welche die Selbstheilung negativ beeinflussen.

Vor diesem Hintergrund macht es nur Sinn, dass die Beseitigung dieser negativen strukturellen Zustände den Selbstheilungskräften dienlich sind. Wohlbefinden und Prävention von Pathologien könnten dadurch ebenfalls erreicht werden (Mootz & Phillips, 1997; AACOM, 2015).

Dieses Modell wird immer noch oft verwendet um konkrete Ursachen für Beschwerden zu finden und die entsprechende Therapie zu rechtfertigen

Warum ein Prozessansatz nicht schon früher?

Ein Prozessansatz geht ebenfalls davon aus, dass eine Person über Selbstheilungskräfte verfügt.
Der therapeutische Fokus besteht nun allerdings darin die dominanten Treiber/Prozesse zu identifizieren, welche den größten Einfluss auf die Genesung haben.
Einmal identifiziert geht es nun um eine Forcierung dieser Treiber wenn sie der Genesung dienlich sind. Ebenso sollten negativ einwirkende Faktoren derart beeinflusst werden, dass die Genesung nicht behindert, sondern unterstützt wird.

Der direkte Unterschied zum Strukturellen Modell
Der Prozessansatz zielt darauf ab den Genesungsprozess direkt zu unterstützen und hat nicht zum Ziel zuerst Biomechanik/ Struktur/ Anatomie oder Haltung zu verändern um dadurch die Genesung möglich zu machen.

Das Strukturelle Modell besitzt eine 500Jahre alte Entstehungsgeschichte. Als im Mittelalter erste anatomische & biomechanische Studien durchgeführt wurden, war das Verständnis des menschlichen Körpers das einer Maschine.

Dieses Verständnis wurde bis ins 20. Jahrhundert getragen und beeinflusste vor allem das Fachgebiet der Orthopädie. Diese hat ihr Bestreben im Unterschied zur Chirurgie darauf ausgerichtet hat permanente strukturelle Veränderung durch „skalpelllose manuelle Operationen“ zu bewirken.

Grundlegende Fehlannahmen der Orthopädie bzgl der „skalpelllosen OP“

Beinlängendifferenzen können korrigiert werden
Muskeldysbalancen können ausgeglichen werden
Wirbelsäulenkrümmungen können korrigiert werden
Wirbel und Gelenke können „Freigemacht“ werden
Das Becken kann richtig ausgerichtet werden
Rippenstellungen und –positionen können beeinflusst werden
Schädelknochen können wichtig ausgerichtet werden
Faszien können über manuelle Techniken gelöst und entklebt werden

Was führte zum Fall des strukturellen Modells?

Forschung der letzten 20 Jahre

Erworbene Asymmetrie, Dysbalancen oder posturale Abweichungen sind normale biologische Variationen und keine Pathologie (Lederman, 2011).

Die Ursache folgender muskuloskelettaler Beschwerden kann nicht über Biomechanik, Struktur oder Haltung erklärt werden (Bakker et al, 2009; Roffey et al, 2010; Lederman, 2011):

  • akuter und chronischer Kreuz- und Nackenschmerz (Dieck, 1985; Hamberg-van Reenen 2007)
  • Schulterbeschwerden wie Impingement und Frozen Shoulder (Zuckerman & Rokito, 2011) 
  • Rotatoren(ein)risse (Tashjian, 2012; Tashjian et al, 2014)
  • Tendinopathien (Ackermann & Renström, 2012),  
  • schmerzhafte Beschwerden in der oberen Körperhälfte wie verschiedene perikapsuläre Beschwerden   (Hamberg-van Reenen 2007; Waersted et al, 2010)
  • verschiedene Arten von Kopfschmerzen (Haldeman & Dagenais, 2001; Fernández de lasPeñas et al.,   2007; Fernández-de-Las-Peñas et al., 2007)

Folge

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass eine strukturelle Reorganisation/ Harmonisierung des Körpers durch (Manuelle) Therapie dazu beiträgt den Prozess der Selbstheilung der oben genannten Beschwerden positiv zu beeinflussen (Ben et al, 2005; Ben & Harvey, 2010).

Um Gewebe dauerhaft zu verändern, müssten manuelle Manöver von mehrere Stunden über Wochen/ Monate durchgeführt werden (Bergmann et al., 2007; Arampatzis, 2010; Lederman, 2013; Rohlmann et al., 2014).

Selbstheilungskräfte – Was genausoll das sein?

Lederman formuliert folgendes Schaubild mit 3 Hauptprozessen einer vollständigen Genesung

Beispiel 1

Nach einem Supinationstrauma wird die Funktion voraussichtlich über einen Prozess der Gewebsheilung/-Wiederherstellung erreicht (Witte & Barbul, 1997; Mutsaers et al, 1997; Enoch & Leaper, 2008; Bunker et al, 2014).

Nach einem Supinationstrauma mit Knöchelfraktur und anschließendem Gips werden hingegen Gewebsanpassungen (dysfunktionales Gewebe) und Anpassungen in der motorischen Kontrolle stattfinden (Kidd et al, 1992; Liepert et al, 1995; Muijka & Padilla, 2001; Seki et al, 2001).
Nach Abnahme des Gips wird die funktionelle Wiederherstellung abhängig von Veränderungen in der Gewebsanpassung und der Nervenplastizität im ZNS sein (Kidd et al, 1992; Tillman & Cummings, 1993; Lederman, 2005 & 2010). Hier steht bei der Heilung also die Adaptation von Gewebe im Vordergrund.

Beispiel 2

Nach ein paar Wochen in Behandlung geht es einem chronischen Rückenschmerzpatienten massiv besser.
Hätte man vor und nach der Behandlung ein MRT der Wirbelsäule gemacht, würde man voraussichtlich keine strukturellen Veränderungen sehen können Boos et al, 1995; van Tulder et al, 1997; Savage et al, 1997; Borenstein et al, 2001; Borenstein et al, 2001; Waddell & Burton, 2001; Jarvik et al, 2005; Carragee et al, 2006; Kanayama et al, 2009).
Die Genesung dieses Patienten ist wohl eher auf eine Reduktion der Symptome zurückzuführen, als auf eine strukturelle Veränderung (Grubb, 2004; Woolf, 2011).

Es gibt zahlreiche Beispiele dieser Art. So ist es zBsp auch möglich mit einer massiven Glenohumeralen Kapselruptur und einem Supraspinatus- und Bizepssehneneinriss nach 6 Wochen wieder Tennis zu spielen (nächste Folie).

Selbstheilungskräfte – Was genausoll das sein?

Beispiel 3

Es ist zBsp auch möglich mit einer massiven Glenohumeralen Kapselruptur und einem Supraspinatus- und Bizepssehneneinriss nach 6 Wochen wieder Tennis zu spielen. 3 Jahre nach der Diagnose spielt der Patient noch immer regelmäßig Tennis. Ohne größeren Schulterbeschwerden.

Weitere Erklärung 1

Es geht im Prozessansatz darum die jeweiligen Hauptprozesse (während einer Reha) zu identifizieren und seine Therapiemaßnahmen anhand dieser Priorisierung auszuwählen.

Akute Verletzungen und Operationen sind assoziiert mit Gewebsschaden. Wahrscheinlich wird die Gewebswiederherstellung der Hauptprozess sein, der innerhalb der ersten 3 Wochen im Fokus steht. Auch akute Wirbelsäulen- und Bandscheibenverletzungen, Verletzungen am Kapsel-Band-Apparat, Zerrungen, etc… (Ledermann, 2005).

Genesung durch den Prozess der Adaptation findet hauptsächlich bei chronischen Beschwerden statt. Gewebsschwächung und Veränderung in der motorischen Kontrolle stehen hier im Zentrum. Immobilisationsbeschwerden (Bsp nach Gips), Kangzeitkontrakturen (nach OP oder Verletzung), Steife Phase bei Frozen Shoulder, ZNS- Schaden (Zbsp nach Schlaganfall) (Lederman, 2005; Neer et al, 1992; Uhthoff & Boileau, 2007; Johansson & Belichenko, 2002; Molteni et al, 2004) sind weitere Beispiele.

Weitere Erklärung 2

Symptomlinderung spielt vor allem bei chronischen Beschwerden eine wichtige Rolle:

Verbesserungen bei Kreuz- und Nackenschmerz (Boos et al,. 1995; Borenstein et al, 2001; Kanayama et al, 2009), Symptomverbesserung bei Osteoarthritis (Lee et al, 2011; Murphy, 2012), schmerzhafte Tendinopathien (Khan, 2003; Rio, 2014), Beschwerden nach Schleudertrauma (Koelbaek-Johansen, 1999; Stone, 2013).

Der Prozess der Symptomlinderung bezieht sich allerdings nicht nur auf Schmerzfreiheit. Auch Symptome wie Schwindel, Steifheit, Parästhesie, Ängstlichkeit und Depression fallen in diesen Prozess hinein.

Prozessüberlappung

Bei der Genesung ist es meist so, dass sich verschiedene Prozesse überlappen können. Nach einer Gewebeverletzung sind zunächst inflammatorische Prozesse & Immunantwort primär dominant und shiften nach und nach Richtung Gewebsheilung und im Weiteren Richtung Adaptation (Remodellierung). Dieser Prozess des schleichenden Übergangs wird dabei maßgeblich von den Aktivitäten der einzelnen Person beeinflusst (Eming et al, 2007; Järvinen & Lehto, 1975; Järvinen, 1976 & 1993; Goldspink, 1985; Montgomery, 1989; Kiviranta et al, 1994; Buckwalter, 1996; Vanwanseele et al, 2002; Vanwanseele et al, 2002; McNulty & Guilak, 2015). Diese Überlappung zeigt also, dass dominante Wiederherstellungsprozesse die Möglichkeit zum Wandel haben.

Eine Überlappung der Prozesse „Gewebeheilung“ und „Symptomlinderung“ kommt vor allem vor bei der Wiederherstellung von akuten Beschwerden. Entzündungsprozesse gehen zurück und die Reizweiterleitung von nozizeptivem Input an der Schadensstelle nimmt ab. Zentrale Sensibilisierungsprozesse reduzieren sich und eine parallele Abnahme von Hyperalgesie und Allodynie in lokalem Gewebe findet statt (Woolf, 2011).

Eine Überlappung der Prozesse „Symptomlinderung“ und „Anpassung“ kommt vor allem vor bei der Verbesserung chronischer Schmerzen. Diese sind oft assoziiert mit zentralen Sensibilisierungsprozessen, welche wiederum mit neuronaler Plastizität und Anpassung in enger Wechselwirkung stehen (Woolf, 2011).

Oben wird der Unterschied im Genesungsprozess zwischen akutem und chronischem Kreuzschmerz dargestellt. Die Überlappung von Symptomlinderung und Anpassung repräsentiert die Rolle der Plastizität des ZNS bei der Genesung von chronischem Kreuzschmerz.

Genesungsprozess mit funktioneller Wiederherstellung nach Immobilisation

Genesungsprozess bei Frozen Shoulder

[Anmerkung PMS: eine Unterteilung in verschiedene Phasen von Frozen Shoulder ist die Meinung des Erstautors]

Umwelt und Verhaltenwährend der Heilung

Wenn sich Menschen einer schmerzhaften Erfahrung, einer Verletzung oder einem Funktionsverlust gegenüber konfrontiert sehen, dann neigen sie dazu ihr Verhalten zu verändern. Das neue spezifische Verhalten zielt darauf ab die physiologischen Prozesse, die mit Heilung verbunden sind, zu unterstützen (adaptives Verhalten, zBsp. Entlastung des Fußes kurz nach Supinationstrauma).
Dieses Verhalten ist Teil einer multidimensionalen Schutz-/ Genesungsstrategie. Sie ist „ganzheitlich“.
Das was Menschen „normalerweise“ tun um funktionell wieder gesund zu werden, spiegelt sich in der (Schmerz-) Forschung wieder.
Ein Prozessansatz orientiert sich an biopsychosozialer Forschung und am natürlichen „Genesungsverhalten“ einer Person:

Umwelt und Verhaltenwährend der Heilung: Mangementvorschlag

Verhalten im Prozess “Gewebswiederherstellung”

Kennzeichnend für das Verhalten im Zyklus der Gewebswiederherstellung ist, dass körperliche Aktivitäten, die potentiell schädigend sein können, für eine kurze Zeit zurückgefahren werden (adaptives Verhalten, aktive rest). Das passt zur Entzündungsphase, wenn Gewebsstrukturen in einem sehr verletzungsanfälligem Zustand sind.
Nach dieser Phase folgen Regenerations- und Remodellierungsphase, in welchen sukzessive Belastung gesteigert werden sollte. Physiologische und biomechanische Prozesse werden dadurch positiv beeinflusst (Gelberman et al,1980; Strickland & Glogovac, 1980; Gelbermanet al, 1982; Montgomery, 1989; Hargens & Akeson, 1986; Akeson et al, 1987; Buckwalter & Grodzinsky, 1999).

Das (adaptive) Verhalten des Patienten impliziert, dass das Management von akuten Verletzungen manualtherapeutische Techniken beinhalten könnte, wenn sie dieser „(Patienten-) Umwelt“ dienlich sind: zyklische Belastungen im betroffenen Bereich durch passive und/oder aktive Mobilisationstechniken  oder aktive sukzessive Bewegungsherausforderungen im entsprechenden Gebiet.
Nach einer Zeit von ca. 2-3 Wochen shiftet der Prozess der Gewebewiederherstellung zunehmend mehr Richtung „Adaptation“.

Verhalten im Prozess “Adaptation”

Am Beispiel einer Bewegungseinschränkung am Sprunggelenk nach einer Gipsversorgung bei Knöchelfraktur lässt sich gut nachvollziehen, dass der Prozess der Adaptation stark vom Verhalten im  Zyklus der Gewebswiederherstellung  abhängt.
Ohne mediziniscche Versorgung würde die Person die Aktivitäten ausführen, welche ihr in dieser Situation am wichtigsten sind, zBsp. Laufen, Stehen, etc… („aufgabenspezifisches Üben“ oder im therapeutischen Setting „aufgabenspezifische Rehabilitation“, Ledermann, 2010). Nach und nach würde die Person die Belastung auf diesem Körperteil steigern.
Das Management sollte eher aktiv als passiv sein. Es liegt starke Evidenz vor, dass nur aktive Bewegung die nötigen  Belastungsreize zur Gewebsanpassung hervorruft (Cyron & Hutton, 1981; Chaudhry et al, 2008; Arampatzis, 2010).
Außerdem ist eine Wiederherstellung der motorischen Kontrolle ausschließlich durch aktive, aufgabenspezifische Bewegungen möglich (Goodbody & Wolpert, 1998; Van Peppen et al, 2004; Healy & Wohldmann, 2006; van de Port et al, 2007; Bogey & Hornby, 2007; Sullivan et al, 2007; Flansbjer et al, 2008; Cano-de-la-Cuerda et al, 2015).

Motorische Kontrolle sollte innerhalb des individuellen Bewegungsrepertoirs des Patienten rehabilitiert werden (Bsp. OsG: Treppen, Gehen, etc…; (Lederman, 2010 & 2013; Cano-de-la-Cuerda et al, 2015; Newham , 1997; Lederman, 2013

Verhalten im Prozess “Symptomlinderung”

Die Kernfrage: Welche Verhaltensmuster zeigt eine Person um ihre Symptome zu lindern und ist es möglich, dass diese Verhaltensmuster in unsere Therapie integriert werden?
Akuter Schmerz hat eine stärkere biologische Rolle als chronische Schmerzzustände. Bei Chronikernn geht es mehr darum Verhalten nachhaltig zu modifizieren und weniger um die direkte Symptomlinderung: ein Aufrechterhalten von alltäglicher Aktivität trotz Schmerz und eine Gewöhnung an progressive körperliche Herausforderungen (Überlastung, Wiederholung) unter Berücksichtigung des individuellen Repertoirs.
Wichtige Kernaufgaben des Therapeuten sollten vor allen die Gabe von sozialer Unterstützung in dieser Phase sowie das schaffen von Vertrauen in die eigenen Ressourcen sein. Dies gelingt vor allem über bestärkende Information (Edukation; Garland, 2012; Lederman, 2013; Nijs et al, 2013).

Manuelle Therapie kann in diesem Prozess  vor allem durch Touch- Effekte und durch eine Beruhigende Wirkung zum Erfolg führen. Patienten in Stress- oder Schmerzzuständen suchen oftmals soziale Unterstützung und physischen Kontakt um ihre Symptome zu lindern (van der Kolk, 2002; Schweinhardt & Bushnell, 2010; Garland, 2012; Jaremka et al, 2014).  Es wird angenommen, dass dieses Verhalten stark von Schmerzerfahrungen in der Kindheit und der Reaktion der Eltern/ Bezugspersonen  abhängig ist (Harlow, 1959 & 1961; Hooker, 1969; Burton & Heller, 1964; Morris, 1971; Reite, 1984; Schanberg et al, 1984; Field et al, 1986; van der Kolk, 2002).

Verhalten im Prozess “Symptomlinderung”: Rolle der Kindheit

Wenn ein Kind (Hilfesuchender) eine schmerzhafte Erfahrung macht, wird es aktiv versuchen sich zu beruhigen indem es in Kontakt zu seinen Bezugspersonen/Eltern (Hilfegebender) tritt.
Die Eltern werden dem Kind mit beruhigendem Verhalten entgegentreten (Körpersprache, Stimme, Handlungen, etc…), um Nähe und Verbindung zum Kind herzustellen. Außerdem verwenden Eltern kognitive Strategien um dem Kind Sicherheit zu geben („Alles wird gut.“, „Es ist nur ein Kratzer.“, usw…) und treten oft in physischen Kontakt (auf den Arm nehmen, Streicheln, Wippen, etc…; Bowlby, 1969; Gordon & Foss, 1966; Korner & Thoman, 1972).

Innerhalb dieser Interaktion spielen Empathie und Mitgefühl eine wichtige Rolle in der Unterstützung von Selbstregulation und Symptomlinderung. Es ist wahrscheinlich, dass sich diese Hilfesuchender- Hilfegebender- Interaktion in der Patienten-Therapeuten- Beziehung wiederspiegelt (Lederman, 1998 & 2005).

Typisches Verhalten von    Hilfesuchender & Hilfegebenderklinische Parallelen
Hilfesuchender/Hilfegebender    therapeutische Unterstützung
Beruhigen bei Angst kognitive Verhaltensstrategien
Unterstützung  Unterstützung, Beraterrolle,  
Mitgefühl, Empathie                                        Mitgefühl, Empathie, Spiegelneurone
Ablenkung von Symtomen (phys./kogn.)externe Fokusverschiebung
BerührungMT, Stimulation superfizielle Propriozeption
Streicheln des betroffenen Areals Massage, Stimulation superfizieller Propriozeption
Halten und Wippen Mobilisatioinstechniken, Triggerpunktbehandlung, tiefe propriozeptive-vestibuläre Stimulation  

Die personenbezogene Umwelt beim Genesungsprozess

Das Management im Prozessansatz zielt auf eine „Mitmischung“ in der personenbezogenen Umwelt ab. Dies soll auf eine Art und Weise geschehen, welche den Genesungsprozess bestmöglich optimiert. Die personenbezogene  Umwelt beinhaltet verhaltensbezogene, psycho-kognitive und sozio-kulturelle Dimensionen.

Die Genesungsprozesse sind höchst beeinflusst durch das biopsychosoziale Umfeld der einzelnen Person. Diese Faktoren unterstützen die Verstärkung von positiv herausfordernden Aktivitäten. Zusätzlich haben sie starke psychologische Einflüsse, welche sich wiederum stark auf das Wohlbefinden auswirken können und dadurch direkt zur Symptomlinderung beitragen (Smeets et al, 2006; Buchner et al, 2006; Garland, 2012; Vachon et al, 2013; Jaremka et al, 2014; Kamper et al, 2015).

Gewebsanpassung erfordert Gewebsbelastung und ständige Auseinandersetzung mit physischem Stress. Diese physiologische Bedingungen können dabei nur erfüllt werden, wenn sich die Person mit Aktivitäten auseinandersetzt, die solche Herausforderungen mit sich bringen. Dabei beeinflussen die individuellen Kognitionen bezogen auf die eigenen Beschwerden/psychologischen Zustand/sozio-kulturelle Faktoren in großem Maße das Ausmaß des Engagements im eigenen Genesungsverhalten (Bauman et al, 2012).

Am Beispiel des gebrochenen Sprungelenk mit Gipsversorgung: die funktionelle Reha wird aus einem großen Teil darin bestehen wieder Belastung und Gewicht auf dem Gelenk zu tolerieren (Stehen, Laufen, ec…). Dieses Verhalten hängt dabei stark von kognitiven und psychologischen Faktoren, Motivation, Bedürfnissen und funktionellen Ziele ab (wieder arbeitsfähig werden; wieder Tennis spielen wollen, etc…). Darin sind soziale (sich mit Freunden treffen), arbeitsbezogene (zur Arbeit laufen) freizeitbezogene Aktivitäten (Radfahren, Joggen) enthalten.

Hindernisse und BarrierenimGenesungsprozess

Wenn davon ausgegangen wird, dass Menschen Selbstheilungskräfte besitzen, dann stellt sich die Frage:

„Warum scheitern manche Personen bei der vollständigen Genesung  oder der Wiederherstellung der ursprünglichen Funktionalität?“

Hindernisse im Genesungsprozess

PsychologischÄngstlichkeit, emotionale Zustände (Depression, u.a.), Prioritäten (Kinderhüten), Motivation, Grundhaltung & Überzeugungen  
Schmerz & Angst vor SchmerzEinschränkung durch Schmerzen, Angst vor Verschlimmerung , Wiederverletzung und zukünftige Eingeschränktheit
Kognitionen bzgl BeschwerdenFehlende oder falsche Information über die Beschwerdehintergründe (Entstehung, Prognose, etc…)
Sozio- kulturelle HindernisseSoziale Überzeugungen (manche Kulturen besitzen einen weniger aktiven Lebenstil), Lebensstil (Freizeitaktivitäten, Work-Life Balamce), Trends/Modeerscheinungen (CrossFit), Möglichkeiten
Arbeitsbezogene HindernisseFehlende Pausen, Fehlende Abwechslung, Fehlende Autonomie, Arbeitsplatzbeschaffenheit (physisch & psychisch)
Physische Kapazitätbestimmte muskuloskelettale Schäden, Schäden an ZNS
GesundheitsstatusKomorbiditäten (zBsp. Cardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes, Krebs, etc…)
UmweltKlima (sehr heiß/kalt), Terrain, Zugang zu öffentlichen Parks, Anfahrt

Im Prozess müssen  Hindernisse und Barrieren exploriert und thematisiert werden.

“Functioncice”

Die Woche hat 168 Stunden. Meistens sehen deutsche Physios ihre Patienten maximal 2x /Woche mit einer Hands-On Phase von maximal 30- 60min. Also: Was passiert in den verbleibenden 167 Stunden?

Für strukturelle Anpassungen ist es nötig, dass Reize ständig erfolgen. Das lässt sich entweder über Trainingszeiten umsetzen oder über ein effizienteres Nutzen der restlichen Alltagszeit in Bezug auf Steigerung der Widerstandsfähigkeit.

Ein praktischer Lösungsansatz: „Functioncice“.

Normale Alltagsaktivitäten werden genommen (evtl. modifiziert) so dass sich aus der Funktion (Function) ausreichend Trainingsreize ergeben (Excercise).

Selbstheilung- die Rolle von Manueller Therapie?

Im Strukturmodell: die Beseitigung struktureller Barrieren zur Genesung
Im Prozessmodell: eine Methode zur Unterstützung des unterliegenden Genesungsprozesses

MT kann als Transportmittel von „Touch- Effekten“ fungieren. Diese können positive Einflüsse auf das Wohlbefinden, Selbstwahrnehmung und Body- Image besitzen (Lederman, 1998 & 2005). Außerdem besitzen „Touch-Effekte“ stark beruhigenden Charakter. Passive oder aktive Mobilisation eines betroffenen Areals durch einen Therapeuten kann Bestärkung implizieren, dass eine bestimmte Bewegung sicher und ungefährlich ist.
Zusammengefasst können alle diese Wirkfaktoren einen positiven Einfluss auf die Genesung haben, vor allem wenn sie im Prozess der Symptomlinderung eingesetzt werden.

Manuelle Techniken, vor allem passive Techniken, haben wahrscheinlich geringen bis keinen Effekt auf Gewebsadaptation oder Neuroplastizität (Lederman, 1997, 2010 & 2013; Kjaer et al, 2009; Tardioli et al, 2012). Sie können allerdings als Führungsinstrument eingesetzt werden um eine aktive Bewegung zu unterstützen oder zu lernen.

Hausaufgabefür die Klinik

Frage dich beim nächsten Patienten folgendes:

„Durch welchen Prozess wird der Patient wahrscheinlich am ehesten gesund?“

Struktureller Ansatz und Prozessansatz im Vergleich

Struktureller Ansatz

  1. Selbstheilung / Prämisse der Genesung
  2. Management fokussiert sich auf ideale biologisch- mechanische Voraussetzungen für die Genesung
  3. Manuelle Techniken oder körperliche Aktivitäten haben das Ziel Struktur und Biomechanik zu korrigieren
  4. Medizinische Diagnosen: biomechanische und anatomische Überlegungen
  5. Gewebe verantwortlich für die Symptome
  6. Therapeutische Zielsetzung oder klinikzentrierte Zielsetzung
  7. Strukturelle Veränderung als therapeutisches Ziel
  8. Management auf biomechanischer Ebene
  9. Therapeutenabhängigkeit / Verantwortung bzgl der eigenen Gesundheit liegt außerhalb der eigenen Person
  10. Pathogenisierung von Normalität (Abweichungen in der Körperhaltung, Asymmetrien, Ungleichgewicht, schwache Muskeln, usw…)
  11. Genesung findet während der klinischen Therapieeinheiten statt
  12. Übungen entsprechen nicht der natürlichen menschlichen Bewegung (extra- funktional)
  13. Edukation: Anatomisch / Biomechanisch orientiert

Prozessansatz

  1. Selbstheilung / Prämisse der Genesung
  2. Management fokussiert sich direkt auf Genesungsprozesse
  3. Manuelle Techniken oder körperliche Aktivitäten unterstützen Genesungsprozesse
  4. Medizinische Diagnosen: durch welchen Prozess wird sich der Patient verbessern?
  5. Identifikation der entsprechenden Genesungsprozesse- Gewebediagnose nicht besonder wichtig für Management
  6. Patientenzentrierte Managementziele
  7. Patientenzentrierte Funnktionalität als therapeutisches Ziel
  8. Multidimensionales Management
  9. Schwerpunkt auf Selbstfürsorge / Unabhängigkeit / Autonomische Verantwortung bzgl. der eigenen Gesundheit
  10. Fokussierung auf Wege / Möglichkeiten zur Genesung, positive Nachrichten / Information und Unterstützung
  11. Genesung findet im individuellen Umfeld statt
  12. Funktionales Management basiert auf dem eigenen Bewegungsrepertoir des Patienten
  13. Edukation: Prozessorientiert

Literaturangaben

Primärquelle: Eyal Lederman (2015). A process approach in manual and physical therapies: beyond the structural model. CPDO Online Journal, May, p1-18.