Eine Übersicht über die plastischen Veränderungen im Nervensystem bei chronischen Schmerzen

Die Neurobiologie des Schmerzes

Ein relativ einfacher neuronaler Schaltkreis für die Übertragung von nozizeptiven Reizen bis zur Wahrnehmung von Schmerz wird häufig mit drei beteiligten Neuronen dargestellt; aktuelle Erkenntnisse zeigen dagegen,  dass die nozizeptive Verarbeitung weitaus komplexer ist.

Viele der kritischen molekularen Mechanismen, die der Umwandlung oder Übertragung eines nozizeptiven Reizes in eine Veränderung des Membranpotentials der nozizeptiven Afferenzen zugrunde liegen, sind bekannt.

Diese anfängliche Veränderung des Membranpotentials wird als Generatorpotential bezeichnet, wobei zusätzliche Proteine identifiziert wurden, die die Ausbreitung des Generatorpotentials innerhalb des afferenten Terminals sowie die Initiierung und Ausbreitung des Aktionspotentials (AP) innerhalb der afferenten Axone steuern.

In der Hinterwurzel des Rückenmarks bilden die zentralen Terminals der nozizeptiven Afferenzen nicht nur Synapsen mit Projektions-Neuronen, die das nozizeptive Signal zu einer Reihe von Strukturen im Hirnstamm und im Gehirn weiterleiten,  sondern auch mit exzitatorischen und inhibitorischen Interneuronen, die als Feedback die eingehenden afferenten Aktivität modulieren und als Feedforward das aufsteigende Signal modulieren.

Im Hirnstamm und  Gehirn gibt es Regionen, die in die weitere Verarbeitung integriert sind und die Wahrnehmung

  • sowohl der sensorisch diskriminierenden Aspekte des Schmerzes (wie Lokalisation, Intensität und Art)
  • als auch der emotionalen bzw. affektiven Aspekte des Schmerzes (z.B. Leiden und die wahrgenommene Bedeutung der Empfindung) ermöglichen.

Zusätzliche Modulationsebenen treten an jeder dieser Stellen bei der Übertragung des nozizeptiven Signals durch einen sogenannten absteigenden nozizeptiven Schaltkreis auf, der das aufsteigende Signal sowohl verstärken als auch hemmen kann.

Schließlich gibt es an JEDER dieser Stellen Hinweise auf eine Plastizität, die die Reaktion des Nervensystems auf eine nachfolgende Stimulation massiv beeinflussen kann (s. Abb.), und es gibt Hinweise darauf, dass viele dieser Veränderungen  bei persistierenden Schmerzen eine zentrale Rolle spielen. Diese Plastizität des Nervensystems ist ein Hauptgrund dafür, dass wir häufig Patienten sehen, deren Schmerzerlebnis in einem klaren Missverhältnis zu ihren pathoanatomischen Befunden steht: Einige erleben massive Schmerzen, obwohl kaum eine Schädigung nachweisbar ist, bei anderen zeigt sich die Situation diametral dazu.

Spinales Hinterhorn:

Primäre Stelle der zentralen Sensibilisierung, die sowohl eine prä- als auch eine postsynaptische Fazilitation, eine Abnahme der inhibitorischen (GABA und Glycin) Signalwirkung  und eine Zunahme der intrinsischen Erregbarkeit der dorsalen Hornneuronen widerspiegelt.. Je nach Zeitpunkt und Art der Verletzung können auch spinale Mikroglia und Astrozyten durch die Freisetzung einer Vielzahl von Mediatoren zur Erhöhung der Hinterhorn-Erregbarkeit beitragen.

Spinalganglion (DRG):

Änderungen innerhalb der DRG können die Entstehung einer ektopischen Aktivität ermöglichen.

Peripherer Nerv:

Verletzungsinduzierte Veränderungen der Aktionspotential-Leitungsgeschwindigkeit und aktivitätsabhängige Verlangsamung sind beschrieben. Eine Nervenverletzung kann auch zur Entstehung einer ektopischen Aktivität entlang des Nervs und zur Bildung von Neuromen führen, die ebenfalls zu einem Ort ektopischer Aktivität werden können.

Periphere Nervenenden:

Die Sensibilisierung der peripheren Nervenenden ist auf Veränderungen der Dichte, Verteilung und/oder biophysikalischen Eigenschaften der Kanäle zurückzuführen, die für die sensorische Transduktion (z.B. TRP-Kanäle), die Ausbreitung des Generatorpotenzials (z.B. K+-Kanäle) und die Einleitung von Aktionspotenzialen (z.B. spannungsgesteuerte Na+-Kanäle) verantwortlich sind.

Kortex:

Veränderungen der kortikalen Dicke wurden in Verbindung mit verschiedenen chronischen Schmerzzuständen beschrieben.

Thalamus:

Zunahme der spontanen und evozierten Aktivität nach einer Rückenmarkverletzung.

Andere kortikale/subkortikale Strukturen:

Veränderungen der synaptischen Stärke und der Genexpression in Strukturen wie dem anterioren Cingulum, der Amygdala und dem Hippocampus wurden bei verschiedenen chronischen Schmerzzuständen beobachtet.

Periaquäduktales Grau (PAG)

Verlust des absteigenden hemmenden Einflusses des PAGs.

Raphe-Kerne (NRM)/Rostroventrale Medulla (RVM):

Shift von der absteigenden nozizeptiven Inhibition zur Fazilitation.

Literaturangaben

Primärquelle: Gold, M. S. (2015). Pain: From Neurobiology to Disease. In Neurobiology of Brain Disorders (pp. 674-692). Academic Press.