Abnorme impulserzeugende Stellen (AIGS) oder „das verstehe ich nicht, wie aus dem Nichts bekomm ich plötzlich einen Beinschmerz“

Da Ionenkanäle Verbindungen zwischen der Innen- und der Außenseite eines Axons sind, müssen sie in die Membran eines Axons eingebaut sein. Myelinisierte Nerven haben jedoch durch die Myelinscheide eine natürliche Barriere gegen den exzessiven Einbau von Ionenkanälen. Folglich ist es gut dokumentiert, dass Ionenkanäle typischerweise in höheren Konzentrationen in Gebieten mit weniger Myelin vorkommen (Dilley & Bove 2008, Devor et al. 2005). Ein solcher Bereich ist das dorsale Wurzelganglion (DRG). Das DRG ist nicht myelinisiert und stellt einen idealen Ort für die Einbringung von Ionenkanälen dar. Das DRG ist nicht nur ein einfaches Ziel für die Expression von Ionenkanälen, sondern weist auch eine spezifische Affinität zu Adrenalin und mechanischen Ionenkanälen auf (Howe et al. 1977, Devor 1999). Ein zweites Zielgebiet für den Einbau von Ionenkanälen ist der Ranvier-Schnürring. Die Ranvier-Schnürringe  sind normale, nicht myelinisierte Abschnitte der Axone zwischen den Myelinschichten. Sie weisen hohe Konzen-trationen von Ionenkanälen auf, was für die elektrochemische Leitung von Impulsen wichtig ist. Der dritte Zielbereich für die Entstehung neuer Ionenkanäle ist jeder Bereich entlang der Nervenfaser, in dem eine Verletzung oder ein Krankheitszustand zu einem Verlust des Myelins geführt hat.

Wo immer die Myelinscheide vom Axon entfernt wird, werden Ionenkanäle in das neu freigelegte Axolemm eingebaut. Myelin kann aus einem Nerv entfernt werden durch:

  • Mechanische Kraft: Myelin kann physisch vom Axon „abgeschält” werden. So können beispielsweise bei einer Verletzung, wie einem Inversionstrauma des Sprunggelenks, Axone des N. suralis über die plötzliche Inversionsbewegung demyelinisiert werden.
  • Immunprozesse: Es gibt mehrere immunbasierte Krankheitszustände, die Axone demyelinisieren können, wie z.B. Multiple Sklerose oder HIV.
  • Chemisches Stripping (Freilegung): Entzündungsmediatoren, die zum Zeitpunkt einer Verletzung freigesetzt werden, können das Myelin um das Axon herum auflösen. Verschiedene Entzündungs- und Immunzellen sind als Teil dieses “chemischen Strippings” des Axons bekannt. So werden beispielsweise Phospholipase-A2, Thromboxan, Interleukine etc. nach einem Bandscheibenvorfall von der Bandscheibe freigesetzt und können benachbarte Axone denervieren  (Franson & Saal 1992, Saal et al. 2004). Diese Kategorie des chemischen Peelings umfasst auch eine Chemotherapie und ihre Wirkung, Myelin auflösen  und potenziell erhöhte Schmerzreaktionen auszulösen. (Kautio et al. 2011, Wijdicks et al. 2009).

Es ist nun mittlerweile bekannt, dass das Axon bei einer abnormalen Konzentration von Ionenkanälen im Axolemm die Fähigkeit entwickelt, eigene Impulse zu erzeugen und damit nicht nur Impulse zu leiten. Diese Bereiche werden als ektopische Nervenschrittmacher oder abnorme impulserzeugende Stellen (AIGS) bezeichnet. Abhängig von der Konzentration der spezifischen Art von Ionenkanälen in einem Gebiet kann das Axon als Reaktion auf das Öffnen dieser Ionenkanäle depolarisieren. Gleichzeitig kann ein Aktionspotential  auf der Grundlage höherer Adrenalinspiegel (Angst, Stress oder Wut), durch Bewegung und/oder mechanischen Druck, Temperaturunterschiede in der Umgebung usw. ausgelöst werden. (s. Abb.).

Ein Verständnis der Demyelinisierung von Axonen und der  daraus resultierenden Hochregulierung von Ionenkanälen in das blank liegende Axolemm kann Klinikern helfen, Schmerzen zu erklären, die Patienten nach einer Operation oder Verletzung häufig angeben. Drei orthopädische Beispiele sind:

  1. Anhaltende Symptome und Schmerzen (z.B. plötzlich einschießende, spontane neuropathische Schmerzen aus dem Nichts) nach einem Bandscheibenvorfall und einer Radikulopathie (Kautio et al. 2011, Alizadeh et al. 2015, vgl. chemisches Stripping)
  2. Eine Verletzung des infrapatellaren Astes des Saphenus-Nerven durch den operativen Port bei einer Kniegelenkarthroskopie (Portland et al. 2005, Papastergiou et al. 2006, Luo et al. 2007, Figueroa et a. 2008).
  3. Schmerzen an der medialen Scapula-Grenze durch die De-myelinisierung der Axone der posterioren Rami der Spinalnerven bzw. der DRGs – häufig nach einem Schleudertrauma mit Hyperflexion der HWS -, die den Cloward-Zonen des übertragenen Schmerzes für diskogene Beschwerden oder den Arealen zygapophysealer zervikaler Schmerzen entsprechen können (Louw & Schmidt 2015).

Literaturangaben

Primärquelle: Pain neuroscienceeducation: teachingpeopleaboutpainAdriaan Louw-Emilio Puentedura-Stephen Schmidt-Kory Zimney – Optp – 2018